Eines kann der Europäischen Wettbewerbskommission niemand vorwerfen: Dass sie bei ihrer Meinungsbildung rund um die Gruppenfreistellungsverordnung für die Kfz-Branche überhastet gehandelt hätte. Im Gegenteil: 2007 wurde die Begutachtung der "alten" GVO aus dem Jahr 2003 eingeleitet, am 28. Mai 2008 gab es den ersten Zwischenbericht. Weitere 14 Monate vergingen, bis sich Brüssel endlich zu einer Empfehlung für die künftige Regelung durchrang. Die endgültige Entscheidung steht immer noch aus -und das ein dreiviertel Jahr, bevor die aktuelle GVO endgültig ausläuft. "Derart lange Wartezeiten sind für Händler und Hersteller katastrophal", bedauert der Wiener Rechtsanwalt Dr. Roland Weinrauch. Das Ende Juli veröffentlichte Kommissionspapier lasse aber schon einige Rückschlüsse auf die endgültige Neuregelung zu. Aus Sicht der Autohäuser sind die Vorschläge alles andere als erfreulich: "Der Markenhandel erhält einen massiven Dämpfer", ist sich Weinrauch mit den meisten Fachkollegen einig.

Wildwest im Vertrieb

Im Zentrum der Brüsseler Pläne steht eine noch weiter reichende Trennung der Vertriebs-und Servicerichtlinien. Künftig soll es zwei gänzlich verschiedene Gesetzeswerke geben. Die meisten Änderungen blühen dem in Brüssel als "Primärmarkt" bezeichneten Neuwagenhandel: Für ihn soll nach einer Verlängerung bis31. Mai 2013 nur mehr die allgemeine Schirm-GVO gelten, wenngleich die EU-Kommission Einschränkungen macht. "Ergänzende Leitlinien" seien nötig, um "einen Ausschluss neuer Marktteilnehmer, starre Preisvorgaben der Hersteller, die Segmentierung der Märkte durch Gebietsaufteilung oder die Beschränkung des grenzübergreifenden Vertriebs" zu vermeiden. Dass diese Leitlinien verpflichtend festgeschrieben werden, erscheint unwahrscheinlich: Wozu dann die Abkehr von einer sektorspezifischen GVO, wie sie bislang nicht nur für Autohandel, sondern auch für fünf anderen Branchen gilt? Offensichtlich denkt man in Brüssel eher an den "Code of Conduct", der von den Herstellern schon mehrmals vorgeschlagen wurde. So manchem Händler läuft beim Gedanken an derartige unverbindliche Vereinbarungen ein kalter Schauer über den Rücken. Droht dem Autohandel der juristische wilde Westen?

Kein Ersatz für Artikel 3

Glaubt man Neelie Kroes, sieht die Zukunft ganz anders aus. "Der Kfz-Sektor ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in der EU und braucht vor allem in Krisenzeiten - Rechts-und Planungssicherheit", betont die scheidende Wettbewerbskommissarin. Diese Sicherheit würde laut den jetzt vorliegenden Entwürfen aber ausschließlich der Industrie gewährt. "Das ist ein Kniefall vor den Interessen der Autohersteller", kritisiert Branchenjurist Dr. Friedrich Knöbl. "Mit keinem einzigen Wort geht die Kommission auf die schwierige Lage der Autohändler ein." Im Gegenteil: Der Händlerschutz, für die Betroffenen die entscheidende Errungenschaft der auslaufenden GVO 1400/2002, würde gänzlich verloren gehen. Geregelt wird der Händlerschutz in Artikel 3 der aktuellen GVO. Darin werden unter anderem die Rechte auf zweijährige Kündigungsfristen, freie Standortwahl und Betriebsveräußerung innerhalb des Markennetzes, der zu zwei Dritteln liberalisierte Neuwageneinkauf sowie die Möglichkeit, ein Schiedsverfahren einzuleiten, festgeschrieben. Was geschieht, wenn diese Bestimmungen dem Verhandlungsgeschick von Interessenvertretern und Händlerverbänden überlassen werden? "Für die Händler würde eine Unterschrift unvorhersehbare Risiken mit sich bringen", warnt Kartellrechtsexperte Dr. Norbert Gugerbauer.

Freie Werkstätten im Aufwind

Im Servicebereich will die EU die 2003 eingeleiteten Liberalisierungen weiter voran treiben. Im Gegensatz zum Primärmarkt sieht sie hier sehr wohl Bedarf an "sektorspezifischen Leitlinien bzw. einer gezielteren sektorspezifischen Gruppenfreistellungsverordnung". Diese soll "zentrale Aspekte des Anschlussmarktes" von der Teileund Informationsweitergabe bis hin zur Gewährleistungsabwicklung regeln. "Gewinner der Regelung scheinen die markenungebundenen Werkstätten zu sein", urteilt der Wiener Jurist Dr. Johannes Öhlböck. Mit den freien Betrieben freuen sich die Autofahrerverbände, die massiv für die günstigere Alternative zu Vertragswerkstätten lobbyiert haben. Offen bleibt, wann die neuen Bestimmungen für den Servicemarkt in Kraft treten: Nachdem das Kommissionspapier dazu keine Angaben macht, ist theoretisch schon der 1. Juni 2010 denkbar. Praktisch dürfte das aber kaum möglich sein.

Suche nach Auswegen

Unterm Strich fällt das Fazit der Juristen nüchtern aus: "Intention der EU-Kommission ist es offensichtlich, die Kfz-GVO abzuschaffen und dennoch die Verbraucherinteressen zu wahren", fasst Knöbl zusammen. "Das Schicksal des Handels spielt in den Überlegungen keine besondere Rolle." So mancher Kammerfunktionär träumt daher davon, im nationalen Recht Schutzbestimmungen festzuschreiben. Gugerbauer ist skeptisch: "Ich halte das für unendlich schwieriger, als doch noch in Brüssel auf eine -idealerweise zehnjährige -Verlängerung der GVO zu drängen." Eine andere Hoffnung hegt Weinrauch: Er verweist darauf, dass Mario Monti, der Vorgänger von Wettbewerbskommissarin Kroes, wesentlich händlerfreundlicher agiert hat. Vielleicht wird sich der nächste Kommissar ähnlich verhalten? Gugerbauer warnt vor allzu großen Erwartungen: "Die Kommissare kommen und gehen, die Beamten bleiben die gleichen."

Kraftlose Interessenvertreter?

Toyota ist schon jetzt ein Beispiel für eine Marke, die ihre Händlerverträge mit fünfjähriger Befristung vergibt. Dass jeder Partner einen neuen Vertrag erhält, ist -man denke an die Ereignisse im Frühjahr 2008 -alles andere als sicher. Unter der Schirm-GVO würde eine derartige Vertragsgestaltung die Regel sein, meint Gugerbauer: "In Summe wird der Druck der Hersteller auf den Handel deutlich zunehmen, und das geht zu Lasten des Wettbewerbs." Dass damit auch die Kundeninteressen unter die Räder kommen, haben die Autofahrerklubs bisher nur unzureichend erfasst. Noch erstaunlicher ist aber, wie bereitwillig viele Handelsvertreter die "Beruhigungspille" der dreijährigen GVO-Verlängerung geschluckt haben. Es bleibt zu hoffen, dass sie künftig effektiver arbeiten. Immerhin führt der europäische Dachverband CECRA in seiner Selbstdarstellung stolz 380.000 Mitgliedsunternehmen und 2,8 Millionen Beschäftigte an. Weshalb wird ihre Stimme nicht gehört?