Denn auch mit den Unterschieden zwischen einem "quantitativ-selektiven" und einem rein "qualitativ-selektiven" Vertriebssystem hat sich der Europäische Gerichtshof erst knapp vor dem Ende der Kfz-GVO 1400/2002 erstmals beschäftigt. Was auf den ersten Blick wie juristische Haarspalterei aussieht, hat tiefgreifende praktische Auswirkungen. Letztlich ist dieser Unterschied dafür ausschlaggebend, ob ein Unternehmer ins Markennetz des Herstellers aufgenommen wird -oder nicht. Zumindest so lange es die in der Kfz-GVO verankerten Unterschiede noch gibt.

Vertragsansprüche?

Strittig war, ob ein gekündigter Land-Rover-Händler vom französischen Importeur wieder ins Netz aufgenommen werden muss. Der Händler berief sich darauf, dass er sämtliche von Land Rover vorgegebenen Standards erfülle. Er habe daher einen Anspruch auf einen neuerlichen Vertragsabschluss. Die Weigerung von Land Rover sei ein rechtswidriger Willkürakt.

Was bestimmt der Hersteller?

Der EuGH ging vorerst der Frage auf den Grund, was die in der Kfz-Branche praktizierten "selektiven Vertriebssysteme" sind: Bei denen verpflichtet sich ein Lieferant, seine Ware nur an ausgesuchte Händler oder Werkstätten zu liefern, "die aufgrund festgelegter Merkmale ausgewählt werden".

Im Gegenzug werden diese verpflichtet, "die Vertragsware oder Dienstleistungen nicht an nicht zugelassene Händler oder unabhängige Werkstätten zu verkaufen". Ein geschlossenes System, bei dem der Hersteller bestimmt, wen er mitspielen lässt oder nicht.

Grenzen der Unternehmerfreiheit

Doch dann kennt die Kfz-GVO doch eine Einschränkung dieser grenzenlosen unternehmerischen Freiheit. Sie gilt nämlich nur, wenn der Marktanteil des Herstellers unter 30 Prozent liegt. Das ist bei Neufahrzeugen meist der Fall. Bis zu dieser Grenze kann sich der Kfz-Produzent seine Vertragshändler "quantitativselektiv" aussuchen.

Was sind "festgelegte Merkmale"?

Das EuGH-Urteil zur Auslegung des GVO-Begriffs "festgelegte Merkmale" war in der Rechtssache C158/11 -Auto 24 S.a.r.l./Boulazac gegen Land Rover France S.A.S./Colombes -ergangen. Darin ging es um den Begriff "festgelegte Merkmale" der GVO 1400/2002 im Fall eines quantitativen selektiven Vertriebssystems. Der EuGH kam nach dem Vorabentscheidungsersuchen des französischen Kassationsgerichts vom 29. März 2011 zum Ergebnis dass unter "festgelegte Merkmale" im Fall eines quantitativen selektiven Vertriebssystems im Sinne dieser Verordnung Merkmale zu verstehen seien, deren genauer Inhalt überprüft werden könne.

Um in den Genuss der in dieser Verordnung vorgesehenen Freistellung zu gelangen, sei es nicht erforderlich, dass ein solches System auf Merkmalen beruhe, die "objektiv gerechtfertigt" seien sowie "einheitlich und unterschiedslos" auf alle Bewerber um die Zulassung angewandt würden. Der Rechtsstreit war entstanden, nachdem sich Jaguar Land Rover France geweigert hatte, Auto 24 als Vertragshändlerin der Marke Land Rover zuzulassen.

Über 30 Prozent: qualitativ-selektiv

Weitergehende Beschränkungen gibt es allerdings bei Marktanteilen über 30 Prozent -daher für das Werkstättengeschäft. Für das ist laut Verordnungstext nur noch ein rein "qualitativ-selektives" Vertriebssystem zulässig. Das sind jene, "in denen der Lieferant rein qualitative Merkmale für die Auswahl der Händleroder Werkstätten anwendet, die wegen der Beschaffenheit der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich sind, für alle sich um die Aufnahme in das Vertriebssystem bewerbenden Händler oder Werkstätten einheitlich gelten, in nicht diskriminierender Weise angewandt werden und nicht unmittelbar die Zahl der Händler oder Werkstätten begrenzen." Einschränkungen, die laut EuGH nicht für Händlerverträge gelten. Weshalb der französische Aspirant mit seinem Wunsch nach einem Land-Rover-Händlervertrag beim EuGH "auf die Nase fiel".

Was bringt die neue Werkstatt-GVO?

Anspruch hatte er somit auf einen Land-Rover-Werkstättenvertrag -aber den hatte er bereits. Ein Anspruch, der derzeit direkt aus der Kfz-GVO 1400/2002 ableitbar ist. Die aber Ende Mai dieses Jahres zu Ende geht. Danach gilt nur noch die sogenannte "Schirm-GVO", die keine Unterscheidung in "quantitativ-selektive" und "qualitativ-selektive" Vertriebssysteme kennt.

In einem Leitfaden zur neuen Werkstätten-GVO 461/2010 führte die Europäische Kommission zwar aus, dass sie es als wichtig erachte, "dass der Zugang zu den Netzen zugelassener Werkstätten im Allgemeinen allen Unternehmen offen steht, die bestimmte Qualitätskriterien erfüllen". Das ist allerdings bloßes "soft law", ähnlich einem Wunsch ans Christkind. Bindungswirkung hat diese Empfehlung nur für die Kommission selbst, aber für niemand sonst.