Ist den Kfz-Herstellern bald alles erlaubt, was wettbewerbsrechtlich
nicht ausdrücklich verboten wurde? Alle anderen - so auch die
Europäische Kommission - waren bisher dagegen. Das dürfte sich Ende
Mai 2010 schlagartig ändern.
Bisher hat die Kfz-GVO den Produzenten und ihren Importorganisationen
enge Fesseln angelegt. Mit hunderten Seiten dicken Verträgen und
Vorschriften haben diese daraufhin versucht, die lästigen
Behinderungen durch die Wettbewerbshüter zu unterlaufen. Parallel
dazu sind sie jahrelang gegen die mittlerweile "alte" GVO Sturm
gelaufen. Nun scheinen sie am Ziel.
Schutz der Industrie
Schon der vor einem Jahr veröffentlichte "Evaluation Report" ließ
erahnen, dass sich in Brüssel dunkle Wolken zusammenballen.
Autofahrerclubs, Händlerverbände und Fachjuristen warnten deshalb
unisono: Zum Schutz der Konsumenten ist die Beibehaltung der
bisherigen Rahmenbedingungen unbedingt erforderlich.
Doch die EU-Kommission hat anderes im Sinn: Der Schutz der
Autoindustrie hat Vorrang. Zum Schutz der Arbeitsplätze seien ihr
größere Freiheiten einzuräumen. In diesem Sinne veröffentlichte sie
am 22. Juli einen Folgenabschätzungsbericht, den AUTO&Wirtschaft in
der vergangenen Nummer vorgestellt hat: Für den Vertrieb sollen
demnach spätestens 2013 die gleichen Regeln wie für den Pullover-oder
Waschmaschinenverkauf gelten, für die Werkstätten soll die Kfz-GVO
schon am 31. Mai 2010 auslaufen.
Was das im Detail bedeutet, hat Kartellrechtsexperte Dr. Norbert
Gugerbauer im Auftrag des Bundesgremiums des Fahrzeughandels
analysiert. Das Fazit der 150 Seiten starken Studie: Die schlimmsten
Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen.
Den Herstellern ausgeliefert?
Aufgrund der bisherigen Vorschriften waren zum Schutz des
Wettbewerbes alle Verträge unbefristet oder hatten eine zumindest
fünfjährige Laufzeit. Das soll künftig verboten sein. Verträge dürfen
nur noch eine maximale Laufzeit von fünf Jahren haben. Ob ein
Kfz-Betrieb danach neuerlich einen Markenvertrag erhält, hängt
ausschließlich vom Wohlwollen des Herstellers ab.
Dazu kommt ein Wechsel vom sogenannten "qualitativen" zum
"quantitativen" Vertriebssystem. Bisher musste jeder Betrieb, der die
qualitativen Standards des Herstellers erfüllt hat, zur
entsprechenden Markenwerkstätte autorisiert werden. Das ist ab
nächsten Mai passee, denn die Hersteller betreiben zunehmend selbst
Autohäuser: Sie wollen nicht an lukrativen Standorten in
Ballungszentren von Vertriebspartnern aus dem eigenen Markennetz
konkurrenziert werden. Sie legen daher fest, wie der Kuchen des
Reparaturgeschäftes zwischen ihnen und den von ihnen abhängigen
Vertriebspartnern zu teilen ist.
Servicepartner als "Trittbrettfahrer"
Bisher gab es für den Kfz-Handel und die Kfz-Reparatur zwei getrennte
Verträge, eine gegenseitige Koppelung war verboten. Kein Händler war
verpflichtet, eine Werkstätte zu führen. Es konnte allerdings auch
keine Werkstätte gezwungen werden, den betriebswirtschaftlich
unlukrativen Neuwagenhandel zu betreiben.Aus der Sicht von
"GVO-Vater" Mario Monti war diese Trennung erforderlich, um durch den
freien Wettbewerb zu einem dichten Netz an Vertragswerkstätten zu
kommen - unabhängig davon, ob der Hersteller zur Zahl der Betriebe
und zu deren Standorten seinen Sanktus gibt oder nicht.
Auch das ist passee. Die Kommission ist offenbar zur Erkenntnis
gelangt, dass mit dem Handel von Neuwagen kein Geschäft zu machen
ist. Zum Überleben braucht das Autohaus das daran anschließende
Werkstättengeschäft. Die Autohersteller haben der
Noch-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes deshalb klargemacht, dass es
sich bei den Vertragswerkstätten ohne Neuwagenhandel um
"Trittbrettfahrer" handelt. Das soll künftig zum Schutz der
Hersteller und ihres Direktverkaufes künftig unterbunden werden.
Arbeitsplätze zweiter Klasse
Jetzt wird auf Wunsch der Industrie kräftig zurückgerudert. Das
betrifft auch den Mehrmarkenvertrieb, der künftig dem Händler vom
Hersteller gänzlich untersagt werden kann. Dazu Gugerbauer: "Wenn man
berücksichtigt, dass es im Jahr 2008 in der EU 76.000
Werkstättenverträge, aber nur 45.000 Händlerverträge gegeben hat,
wird ersichtlich, dass eine Reduzierung der Vertragswerkstätten
massive Auswirkungen, nicht zuletzt auf die Beschäftigungslage, haben
würde." Beschäftigte in Klein-und Mittelbetrieben, die in Brüssel
offenbar einen geringeren Stellenwert haben als Beschäftigte bei den
mächtigen Automobilkonzernen.
Gugerbauer drückt sich dabei vorsichtiger aus: "Bemerkenswert ist,
dass im Impact Assessment Report zwar die Auswirkungen möglicher
Veränderungen des wettbewerbsrechtlichen Rahmens für den
Kraftfahrzeugsektor auf die Industrie und die Verbraucher dargestellt
werden, die Auswirkungen auf den Handel und die Händler aber nicht
gesondert untersucht werden." Die Politiker ignorieren, dass in der
EU-Fahrzeugindustrie zwar 2,3 Mio. Mitarbeiter tätig sind, von den
Kfz-Händlern und Werkstätten aber 2,8 Mio. Mitarbeiter beschäftig
werden. Die von den Wettbewerbshütern geplante Sicherung der
Industriearbeitsplätze geht daher voll auf Kosten der Klein- und
Mittelbetriebe und ihrer Mitarbeiter.
Tendenziöse Kommission
In diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, dass Kroes jeglichen
Kündigungsschutz für überflüssig erachtet. Tendenziös werden Montis
Rahmenbedingungen für die Kfz-Branche als "Händlerschutz-Maßnahmen"
abqualifiziert. Diese würden es den Herstellern erschweren, ihre
Vertriebsnetze an wechselnde wirtschaftliche Bedingungen anzupassen.
Die Kfz-GVO habe daher"negative Effekte" auf die
Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Fahrzeugindustrie. Dazu
Gugerbauer ätzend: "Die Insolvenz der beiden US-amerikanischen
Hersteller General Motors und Chrysler sowie der Wettbewerb zwischen
Volkswagen und Toyota um den Titel des weltweit größten Herstellers
können nicht gerade als Indiz für die schwache Wettbewerbsposition
der europäischen Fahrzeugindustrie herangezogen werden."
Tausende Betriebe am Abgrund
Die bisherigen klaren gesetzlichen Vorschriften sollen künftig durch
"Leitlinien" zur sogenannten "Schirm-GVO" ersetzt werden. Dieses
"soft law" bindet zwar die Europäische Kommission, aber sonst
niemanden. So hat etwa schon der Oberste Gerichtshof jenen Händlern,
die sich darauf berufen haben, klar gemacht: Leitlinien schaffen kein
Recht, sondern interpretieren nur bestehendes Recht. Eine bindende
Interpretation fällt aber in die ausschließliche Zuständigkeit der
Gerichte.
Theoretisch könnte ein Verstoß gegen derartige "Leitlinien" zum
Verlust der Freistellung vom Kartellverbot führen. Aber nur
theoretisch. Dazu abschließend Gugerbauer: "Die Entzugsmöglichkeit
wurde niemals angewandt. Mit anderen Worten ist diese Ermächtigung
totes Recht geblieben." Sicher ist nur: Mit Kroes" Vorschlag gehen
tausende mittelständische Betriebe zugrunde. Und die Autofahrer
werden dank des eingeschränkten Wettbewerbes für ihre Mobilität
tiefer in die Tasche greifen müssen.
Mehr Service für unsere Leser: Auf der neu gestalteten Homepage
www.autoundwirtschaft.at steht die GVO-Studie im Volltext zur
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