Die EU-Kommission hat bei ihrer GVO-Entscheidung alle Einwände des
Fahrzeughandels außer Acht gelassen. Freuen dürfen sich nur die
freien Marktteilnehmer. Für alle anderen gibt es schöne Worte und
einen beinahe zynischen Appell an "ethische Standards".
Viele Fragen bleiben offen", bedauert Branchenanwalt Dr. Friedrich
Knöbl nach einem ersten Blick auf die Brüsseler Rahmenbedingungen.
Eines steht fest: EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia hat bei
seiner Entscheidung über die Zukunft der
Kfz-Gruppenfreistellungsverordnung exakt jenen Kurs fortgesetzt, den
seine Vorgängerin Neelie Kroes eingeschlagen hat. Dieseit 2003
gültigen Bestimmungen für den Fahrzeughandel werden am 31. Mai 2013
auslaufen und durch die "Schirm-GVO", also die allgemeinen
Wettbewerbsregeln für alle Branchen, ersetzt werden. Für die
Werkstätten gilt schon seit 1. Juni eine neue, noch stärker auf die
Marktliberalisierung bedachte GVO.
Gefährliche Regelung
Eines vorweg: Die Interessen der Betriebe sind für die EU-Kommission
nicht einmal zweitrangig. Almunia selbst macht daraus kein Hehl.
Vielmehr sei man verpflichtet, die Position der Konsumenten zu
verbessern. Während diese in den vergangenen Jahren von sinkenden
Neuwagenpreisen profitiert hätten, seien die Reparaturkosten deutlich
gestiegen. Daher gebe es vor allem im Servicebereich Handlungsbedarf.
Konkret werden Vereinbarungen zwischen Autoherstellern und ihren
Vertragsbetrieben nur mehr dann kartellrechtlich freigestellt, wenn
der jeweils relevante Marktanteil unter 30 Prozent liegt. In der
Praxis ist das selten der Fall: Das VW-Servicenetz führt zweifellos
mehr als 30 Prozent aller VW-Reparaturen aus, VW liefert mehr als 30
Prozent der benötigten Teile. Welche Folgen hat also eine mangelnden
Freistellung?
"Das bedeutet, dass derartige Vereinbarungen potenziell
kartellrechtswidrig sind. Beteiligten Unternehmen drohen Bußzahlungen
bis zu 10 Prozent des im letzten Geschäftsjahr erwirtschafteten
Umsatzes", sagt Rechtsexperte Dr. Norbert Gugerbauer. Dies gilt für
beide Vertragsparteien: Auch von Werkstattinhabern, denen de facto
keine Wahl bleibt, erwartet der Gesetzgeber, dass sie wissen, was sie
unterschreiben.
Teilehändler als Gewinner
Ausdrücklich untersagt sind seit 1. Juni Beschränkungen des
Teilehandels zwischen markengebundenen und freien Unternehmen.
Gleiches gilt für Bemühungen der Autobauer, ihre Zulieferer daran zu
hindern, das eigene Markenzeichen auf ihren Produkten anzubringen.
Außerdem wird die Weitergabe technischerInformationen forciert und
die -schon bisher widerrechtliche -Verknüpfung von
Gewährleistungsansprüchen mit der Wartung in Vertragsbetrieben erneut
untersagt. Eindeutiger Profiteur ist der freie Teilehandel: "Diese
GVO ist ein Schritt in die richtige Richtung", urteilt daher, wenig
überraschend,Berufsgruppensprecher Wolfgang Dytrich.
In ihrem begleitend veröffentlichten Leitfaden betrachtet es die
EU-Kommission als "wichtig, dass der Zugang zu den Netzen
zugelassener Werkstätten im Allgemeinen allen Unternehmen offen
steht, die bestimmte Qualitätskriterien erfüllen". Ist die Ausdünnung
der Servicenetze vom Tisch? Gugerbauer mahnt zur Vorsicht: Der
Leitfaden der Kommission habe im Gegensatz zur GVO selbst für die
zuständigen nationalen Gerichte keinerlei bindende Wirkung.
Keine Schutzbestimmungen mehr
Der klare Verlierer der GVO-Reform sind die Markenhändler. Das
Lobbying ihrer Standesvertreter hat Almunia und seine Beamten nicht
im Geringsten beeindruckt. Sämtliche Händlerschutzbestimmungen, die
in der alten GVO enthalten waren, fallen im Frühjahr 2013 weg. Die
Begründung der Kommission: Diese Regeln hätten "nicht, wie erhofft,
zu besser funktionierenden Märkten beigetragen", sondern "den Zugang
von neuen Marktteilnehmern zu den Vertriebsnetzen möglicherweise
sogar noch erschwert".
Damit sterben beispielsweise die zweijährige Frist für
Vertragskündigungen, das Recht auf Anrufen eines Schiedsgerichts und
die Berechtigung zur Veräußerung eines Betriebes an Markenkollegen.
Besonders wichtig: Auch die 2003 den Herstellern auferlegte
Verpflichtung, ihren Händlern den Vertrieb von zumindest zwei
konkurrierenden Marken zu gestatten, fällt weg. Kurioserweise
begründet die EU-Kommission diese Entscheidung mit den hohen
Standards der Autobauer: Diese hätten "zu einem allgemeinen Anstieg
der Vertriebskosten um schätzungsweise 20 Prozent zum Nachteil der
Kfz-Händler und der Verbraucher" geführt.
Mehr oder minder wirksam
Mit dem Streichen des Mehrmarkenvertriebs ist den Händlern, die unter
den Standards stöhnen, allerdings ebenso wenig geholfen. Ganz
ersatzlos ist der Wegfall nicht, betont die Kommission: Sie hat
einige Schutzklauseln vorgesehen. Die erste, laut der nur Hersteller
mit einem Marktanteil von weniger als 30 Prozent Markenzwang ausüben
dürfen, ist sogar im Heimatland der Porsche Holding reichlich
theoretisch. Wichtiger ist, dass derartige Verpflichtungen maximal
fünf Jahre lang gelten und höchstens 50 Prozent aller Neuzulassungen
betreffen dürfen.
Doch wie klärt man, ob die beiden weiteren Einschränkungen -der
bewusste Ausschluss von neuen Marktteilnehmern oder die Verdrängung
kleinerer Konkurrenten - zutreffen? Kommen gar die "profitierenden"
Einmarkenhändler zum Handkuss, wenn die Wettbewerbsbehörden Verstöße
ahnden? "Diese Fragen zeigen, dassdie neue GVO enorme
Rechtsunsicherheit verursacht", so Gugerbauer.
Zynischer Trost
Ebenso diffus ist vorerst die in den Leitlinien erwähnte
"De-minimis-Klausel": Je nach Auslegung könnten Autobauer mit einem
Marktanteil von weniger als 5 Prozent überhaupt keinen Vorgaben bei
der Vertragsgestaltung unterliegen. Kein Wunder, dass auch das Urteil
von Knöbl vernichtend ausfällt: "Diese GVO ist ein Etikettenschwindel
auf Kosten der Markenhändler." Für den Kunden ändere sich fast
nichts, die Entrechtung der Vertragshändler sei "brandgefährlich".
Almunia vertraut dagegen der Selbstregelung des Marktes -und
vergisst, dass eine der beiden Seiten viel stärker ist als die
andere. Sein einziges Trostpflaster für die Händler: Die
sanktionslose Aufforderung an die Hersteller, "in ihren
Geschäftsbeziehungen mit Händlern ethische Mindeststandards zu
erfüllen".
Almunia weiß wohl nicht, wie zynisch diese Aussage für viele
Betroffenen klingt. Dank seiner Reform beginnt das unfaire Match
zwischen übermächtigen Importeuren und von ihnen abhängigen Händlern,
dem die alte GVO vorübergehend Regeln gegeben hat, von Neuem. Doch
diesmal ist die Spielzeit länger: Die nächste Reform plant die
EU-Kommission erst im Jahr 2023.
Das bleibt offen:
Wen betrifft die "Vogelfreiheit" des Mehrmarkenhandels? Gelten die
neuen Bestimmungen nur für ab dem 1. Juni 2013 hinzukommende Marken
oder auch für bestehende Verträge?
Was bedeutet der Verlust der Gruppenfreistellung? Werden die Verträge
damit ungültig? Müssen auch die "schwächeren" Vertragsnehmer
Bußzahlungen fürchten?
Wie wird die Marktanteilsschwelle berechnet? Bezieht sich die Grenze
von 30 Prozent auf alle Fahrzeuge, Reparaturen und Teile? Wird sie
regional oder national berechnet?
Wie ist die Ausnahmeklausel "de minimis" zu verstehen? Müssen
Importeure mit einem Marktanteil unter 5 Prozent bei der
Vertragsgestaltung nur die "schwarzen Klauseln" der Schirm-GVO
beachten?