Mit einer Verbandsklage ist der Verein für Konsumenteninformation (VKI) der Totalschadenspraxis der VAV Versicherungs AG zu Leibe gerückt. In deren Kasko-Bedingungen heißt es unter anderem: "Ein Totalschaden liegt vor, wenn in Folge eines unter die Versicherung fallenden Ereignisses die voraussichtlichen Kosten der Wiederherstellung zuzüglich des Restwertes den ( ...) Schaden übersteigen." Eine Regelung, die aus der Sicht des VKI überraschend, nachteilig und gröblich benachteiligend ist.

Das Handelsgericht Wien hat sich vergangenen Dezember dieser Rechtsansicht angeschlossen (siehe A&W 2/2011). Schließlich möchte ein normaler Autofahrer nach einem Unfall sein Auto reparieren lassen -auf Kosten der Haftpflichtversicherung, wenn der Gegner schuld war, beziehungsweise auf Kosten der Kasko, wenn er selbst schuld war. Eine weitergehende Differenzierung gibt es für ihn nicht. Aus Sicht des Handelsgerichtes kann ihm auch nicht zugemutet werden, sich mit juristischen Feinheiten des Schadenersatz-und Vertragsrechtes auseinander zu setzen.

Deutsches Vorbild

Das Oberlandesgericht (OLG) Wien drehte diese Entscheidung nun unter Verweis auf die Judikatur des deutschen Bundesgerichtshofes (BGH) um (4 R 53/11k): Im Gegensatz zu den Schadenersatzregeln des Bürgerlichen Gesetzbuches sei "die Natur der Kaskoversicherung typischerweise nicht auf den vollen Ersatz des Vermögensschadens gerichtet". Die Geschädigten sind laut BGH gewohnt, dabei nicht den vollen Schaden ersetzt zu erhalten. So seien ein Kunden-Selbstbehalt und der Ausschluss der Wertminderung durchaus üblich.

Nach dem OLG können "diese Überlegungen auf die vergleichbare österreichische Rechtslage übernommen werden". Entscheidend sei, dass beim Haftpflichtschaden ein Anspruch auf "Naturalrestitution" besteht, bei der Kaskoversicherung jedoch "der Schaden in Geld" zu leisten sei. Ein für den Autofahrer in der Praxis kaum wahrnehmbarer Unterschied: In beiden Fällen bringt er sein Auto nach dem Unfall zur Werkstätte und will es repariert zurück. In beiden Fällen bekommt diese von der Versicherung die Reparaturkosten ersetzt.

Der bei Versicherungsabschluss vereinbarte "Selbstbehalt" ist dem Kunden als Unterschied zwischen Fremd-und Eigenverschulden durchaus bewusst. Mit der vom BGH erwähnten "merkantilen Wertminderung" weiß er meist nichts anzufangen. Beim Haftpflichtschaden muss er von seinem Rechtsberater erst auf diesen Anspruch aufmerksam gemacht werden. Seine "Deckungserwartung" richtet sich nach den Erfahrungen des Kfz-Gewerbes nicht auf eine "Geldleistung", sondern bei beiden Unfallvarianten auf eine ordentliche Reparatur seines Autos.

Ein Kundenverhalten, das vom OLG unter Verweis auf das von ihm zitierte deutsche Vorbild anders beurteilt wurde als vom Wiener Handelsgericht.

Teufel im Detail

Trotz gleichartiger deutscher und heimischer Rechtslage gibt es bei der Schadensabwicklung jedoch entscheidende Unterschiede: So bestimmt bei den Deutschen der schuldlos Geschädigte Art und Umfang der Schadensabwicklung. In Österreich macht dies mit Billigung der Gerichte die Unfallversicherung des Schädigers. Eine "Reparaturwürdigkeit" ist in Deutschland auch dann gegeben, wenn die Kosten der Reparatur 130 Prozent des Wiederbeschaffungswertes erreichen. In Österreich liegt ein "wirtschaftlicher Totalschaden" dagegen schon bei 110 Prozent vor. Weiters ist in Deutschland bei einer Reparaturablöse der "Schadenersatz in Geld" mit 100 Prozent der vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten beschränkt. Hierzulande bekommt der Geschädigte jedoch nur einen"objektiven Minderwert": Eine für Normalverbraucher völlig unverständliche und unberechenbare rechtliche Erfindung des OGH, um einer "Bereicherung" des Geschädigten auf Kosten der Versicherung vorzubeugen. Es gibt somit eine mit Deutschland vergleichbare "österreichische Rechtslage", aber ganzoffensichtlich keine vergleichbare Rechtsauslegung der Gerichte.

Nachteilige Musterbedingungen

Für das OLG war weiters von Relevanz, dass die VAV-Klausel "wortgleich" den Musterbedingungen des Versicherungsverbandes entspreche. Dies signalisiere eine "Verkehrsüblichkeit", was den von den Kunden erwarteten vollen Ersatz der Reparaturkosten ausschließt. Dass allenfalls auch die unverbindlichen Musterbedingungen des Verbandes für Versicherte unverständlich und gröblich benachteiligend sein können, wollten die Richter lieber nicht zur Diskussion stellen.

Mit der derzeit geltenden Restwertregelung des Versicherungsverbandes (AKKB 2008/A) kann der Versicherer beispielsweise jeden Kasko-Schaden zu einem für ihn kostengünstigeren, zu Höchstpreisen an osteuropäische Wrackaufkäufer vermarktbaren Totalschaden umfunktionieren. Aber nur dann, wenn es -wie nunmehr das OLG urteilt -keinen Anspruch auf Reparatur des Schadens gibt. Dann liegt es im alleinigen Ermessen des Schadensreferenten, ob er von dieser für den Versicherten ungünstigen Regelung Gebrauch macht -oder nicht.

Höchstrichter am Zug

Eine eher unbefriedigende Situation, die aus Sicht der Konsumentenschützer und des Kfz-Gewerbes durch kundenfreundlichere Versicherungsbedingungen bereinigt werden sollte. Selbst wenn damit höhere Schadenszahlungen und höhere Kaskoprämien verbunden sein sollten.

Der VKI hat daher umgehend eine Revision an den Obersten Gerichtshof angekündigt. An diesem wird es liegen, die herrschenden Auffassungsunterschiede möglichst praxisgerecht unter die Lupe zu nehmen.