Da sitzen sie also rund um den großen Besprechungstisch in der Redaktionskonferenz. Die Augen geweitet, die Brauen hochgezogen und dazu ein Gesichtsausdruck zwischen Befremden, Bestürzung und Betroffenheit. Was war geschehen? Große Rückrufaktion im Handel? Schlechte Bilanzen? Jemand ermordet? Nichts von alldem. Meine Fachkollegen waren einfach perplex.

Der Herausgeber, für überraschende Denkanstöße bekannt, hatte neben all den fachlichen Belangen eine bewusst kontroversielle Thematik vorgeschlagen: die Vielzahl sexueller Orientierungen. Und die damit verbundene Nichtakzeptanz all jener, die nicht den traditionellen Geschlechterbildern entsprechen. Das löste Verunsicherung aus. Warum eigentlich? Was wäre anders, gäbe es in den Reihen dieser Redaktion Schwule? Würden die Kollegen sie mit Verachtung strafen? Würde ihr Coming-out böse Gefühle auslösen?

Verschiedenartige Lebensentwürfe nicht vorgesehen

Nach der Schreckstarre kamen vorgeschobene Bedenken. Was hat diese Thematik hier verloren? Derartiges in einem Fachmagazin? Aber sicher doch, so viel Mut sollte man schon haben. Ein Fachmedium hat schließlich nicht nur publizistisches, sondern auch gesellschaftliches Potenzial. Klar, in diesem Medium werden Fragen eines bestimmten Fachgebietes, eines Berufszweiges abgehandelt. Allerdings, und das darf man nicht vergessen, beobachtet und reflektiert das Kommunikationssystem Fachmagazin aber auch gesellschaftliche Prozesse. Warum also sollte ausgerechnet dieses Blatt die Aufgabe, lebensbegleitende Umstände wahrzunehmen, sie zu analysieren und den Lesern näher zu bringen, nicht erfüllen? Weil es an ein Tabu rührt. Unternehmen halten zwar große Stücke auf Vielfalt, aber in den Konzernen oder auch Redaktionen müssen sich Homosexuelle noch immer verstecken.

Auch inÖsterreich, wo wir das Fähnlein der Toleranz in den vergangenen Wochen so plakativ vor uns hergetragen haben. Da existiert gerade in den Technik-Konzernen seit den Sechzigerjahren ein kaum verändertes Rollenmodell. Der Mitarbeiter hat männlich, weiß, mit hohem Testosteronspiegel und möglicherweise entzückender Familie zu sein. Leistung wird vorausgesetzt. Da sind die verschiedenartigen Lebensentwürfe, die außerhalb der heterosexuellen Kernfamilie liegen, nicht vorgesehen. Wer bei der Weihnachtsfeier statt von der Gattin über seinen Lebenspartner erzählt, wird nicht nur an diesem Abend zum Thema zu werden.

Ein Outing ist nicht vorgesehen ...

Denn die Vorurteile gegenüber Homosexuellen sind in ländlicheren Regionen und technischen Branchen noch besonders stark verwurzelt: Da wird gewitzelt, diskriminiert, die Autorität untergraben, werden Klischees bemüht. Keiner möchte die Tunte vom Dienst sein. Deshalb ist in genau diesem Umfeld, das geprägt ist von geballtem Fachwissen und Hochtechnologie, von Umsätzen und Verkaufszahlen, die Dunkelziffer der Klammheimlichkeiten und jener, die sich selbst verleugnen, erschreckend hoch. Toleranz und Technik? Kaum vereinbar. Ein Outing? Traut sich keiner. Derjenige muss damit rechnen, dass diese Information irgendwann gegen ihn verwendet wird. Eine Wahrheit, die viele nicht hören wollen.

Da wird lieber geheuchelt, was das Zeug hält. Seit die bärtige Frau für Österreich den Eurovision Song Contest gewonnen hat und ein doppeltes Spiel mit der Gender-Inszenierung treibt, ist Toleranz in Österreich ein besonders strapazierter Begriff. Jeder noch so konservative Boulevardzeitungsleser konnte sich in den vergangenen Wochenleichtherzig auf die Seite der Mehrheit stellen: Alle lieben Conchita. Natürlich akzeptieren wir auch Dragqueens, Nackte, Schwule -solange sie auf dem Laufsteg des Life Balls bleiben.

Rückfall in alte Diskriminierungs-Muster?

Homo-Ehe? Die ist imösterreichischen Mainstream nicht vorgesehen, eine überwältigende Mehrheitsbekundung wie die der Iren bringt das Thema hierzulande zaghaft ins Gespräch -und das war"s dann auch. Denn das Toleranz-Getöse rund um den Eurovision Song Contest ist vorüber, Österreich darf wieder in alte Diskriminierungs-Muster zurückfallen. Und da wissen alle, dass es um die Akzeptanz anderer Lebensmodelle nicht wirklich weit her ist. In manchen Branchen liegt sie sogar fast bei null. "Die Toleranz", sagt ein Soziologe, "unterscheidet sich auch je nach Branche und Kultur, im Automobilbereich etwa oder in Unternehmen, die ihren Firmensitz in ländlichen Gegenden haben, ist es heutzutage immer noch nahezu unmöglich, sich zu outen."

Rein statistisch sind zwischen 3 und 10 Prozent der Menschen homosexuell. Macht bei einer Gruppe von 190 Leuten 6 bis 19 Schwule oder Lesben. Falsch gerechnet? Nein. Natürlich sind längst nicht nur Heteros in der Wirtschaft angekommen. Sondern auch solche, die nur so tun. Scheinheiligkeit als Alltag. Dürfte sich der schwule Werkstättenleiter, Fuhrpark-Chef, Ersatzteil-Händler oder Fachredakteur outen, ohne mit sexuell orientiertem Hass und Diskriminierung konfrontiert zu werden? Wohl kaum.

Studien zufolge raubt die Belastung des Doppellebens sexuell anders Orientierten 20 bis 30 Prozent ihrer Arbeitskraft. Zahlen, die zu denken geben. Vielleicht dämmert es dann auch dem letzten Personalchef: Im globalen Kampf um Talente kann man nicht mehr auf Leute verzichten, nur weil sie anders lieben. (GRE)

Die wichtigsten Begriffe

Der Begriff Gender bezeichnet die soziale, gesellschaftlich konstruierte oder psychologische Seite des Geschlechts einer Person im Unterschied zu ihrem biologischen Geschlecht (engl. sex). Der Begriff wurde aus dem Englischenübernommen, um auch im Deutschen eine Unterscheidung zwischen sozialem ("gender") und biologischem ("sex") Geschlecht treffen zu können, da das deutsche Wort Geschlecht in beiden Bedeutungen verwendet wird. "Die bärtige Frau" war ein Programmpunkt vieler sogenannter Freak Shows, die im 19. Jahrhundert über die Dörfer zogen, um die faszinierten bis angeekelten Bewohner mit der Ausstellung angeblich "abnormer" Menschen zu erschrecken. Dass es hetero-und homosexuelle Transvestiten gibt und diese nicht selten bestimmte geschlechtlich zugeordnete Merkmale -Bart, tiefe Stimme, Brusthaare -in ihr Kostüm integrieren, ist zwischenzeitlich bis in die kleinsten Ecken der Welt vorgedrungen.

Eine Dragqueen ist ein Mann, der in künstlerischer oder humoristischer Praktizierung von Travestie durch Aussehen und Verhalten eine Frau darstellt. Das Gegenstück dazu ist ein Dragking. Eine Dragqueen trägt meist sehr weibliche Kleidung, kunstvolles Makeup, Schuhe mit hohen Absätzen und ausladende Perücken. Dragqueens sind hauptsächlich in der Schwulenszene der Großstädte zu finden. Viele Dragqueens sehen in ihrem Auftreten ein sozialpolitisches Statement: Sie zeigen der Gesellschaft auf, dass es innerhalb des Geschlechtersystems (Mann-Frau) auch eine Art drittes Geschlecht gibt. Somit sind viele Dragqueens der Vergangenheit und Gegenwart nicht nur schrille Discoqueens, sondern fungieren als Galionsfigur in der Homosexuellenbewegung. Mit der Lebenseinstellung "Dragqueen" nah verwandt ist die Travestie. Ein Beruf, gleichzusetzen mit den früheren Damenimitatoren.