Die Dynamik, die wir seit dem März 2020 auf den europäischen Gebrauchtwagenmärkten sehen, hat der Automobilmarkt – so wie wir ihn kennen – noch nicht erlebt. Anfangs war es noch relativ klar: Geschlossene Betriebe in Lockdown-Zeiten ließen den Markt (fast) auf 0 sinken, in den darauffolgenden Öffnungen wurde stark aufgeholt. Neben dem Nachholeffekt kam – durch die Ansteckungsgefahr in den öffentlichen Verkehrsmitteln – ein Boom der individuellen Mobilität dazu. Die langsam erkennbaren Lieferschwierigkeiten bei den Neuwagen – durch unterbrochene Lieferketten und den Halbleitermangel – haben den GW-Markt weiter befeuert. Dabei ist zuerst das volumenstarke Kurzzulassungs­segment weggebrochen. Kunden sind mangels lieferbarer Neuwagen auf junge Gebrauchte umgestiegen. Doch auch diese wurden zunehmend knapp: Die Mietwagenflotten sind – als wichtige Jungwagen-Lieferanten – zusammengebrochen, weil keine Flugreisen möglich waren. Flotten haben aufgrund geringer km-Leistung (und des Nachschubmangels) ihre ­Leasingverträge verlängert. Die somit erhöhte Nachfrage hat sich naturgemäß auch auf die älteren Fahrzeuge ausgewirkt, weil auch hier keine Ware angeboten werden konnte. Die Marktmechanismen haben dann eine echte Preisrallye in Gang gesetzt. So haben wir noch im Frühjahr an dieser Stelle empfohlen, Gebrauchtwagen auch zu höheren Preisen zuzukaufen: „Der Markt gibt es her“, war damals die Botschaft.

Neuer Effekt: Kaufkraftverlust
Das hätte sich auch noch einige Zeit so weiterbewegt, doch mit dem Ukraine-Krieg, der Energiekrise und der dramatischen Inflation kommt nun ein weiterer Effekt in die ohnehin turbulente Marktentwicklung: nämlich der Kaufkraftverlust mit tatsächlichen Auswirkungen oder zumindest mit der Angst davor.
„Die Anfragen sind auf Rekordniveau, weil das Angebot sehr klein und der Wunsch nach individueller Mobilität sehr groß ist“, berichtet beispielsweise Michael Gawanda, Head of Auto & Motor bei willhaben. So sind die Anfragen pro Anzeige gegenüber dem Vorjahr noch weiter deutlich gestiegen. „In der Woche 32, also Anfang August, etwa um 30 Prozent gegenüber der Vergleichswoche im Vorjahr.“ Das Interesse ist also noch stark gegeben. Die Verkäufe sind gegenüber 2021 zuletzt aber stark rückläufig, was natürlich auch am Fehlen der Ware liegt.

Nachfrage noch gegeben
Die Nachfrage ist also noch gegeben, auch höhere Preise werden noch bezahlt, aber der gesamte Markt ist nun noch volatiler geworden. „Es gibt Anzeichen für eine Verlangsamung des Anstiegs der Online-Gebrauchtwagenpreise im B2C-Bereich, aber die Preise in Österreich liegen im August immer noch 0,4 Prozentpunkte höher als Anfang Juli, was einem Anstieg von 11,8 Prozentpunkten seit Ende letzten Jahres entspricht“, berichtet Andreas Steinbach, der bei Autorola für Indicata verantwortlich ist. „Die Preise geraten derzeit schon leicht unter Druck, und man sollte beim Ankauf und Eintausch wahrscheinlich weiter sinkende Preise in der Kalkulation berücksichtigen“, rät Gebrauchtwagenspezialist und Berater Horst Pohl.
Im Händler-Trend-Barometer Österreich, das regelmäßig von puls Marktforschung in Zusammenarbeit mit Santander Consumer Bank sowie AUTO & Wirtschaft erstellt wird, ist die Standzeit zum ersten Mal – seit Anfang 2021 – wieder ­gestiegen.

Wendepunkt?
„Die Preise sind weiterhin hoch, soweit ich höre, aber seit Kurzem mit stagnierender und auch langsam fallender Tendenz. Die Standzeiten steigen bei manchen meiner Kunden erstmals seit Längerem wieder leicht an“, bestätigt auch Horst Pohl: „Ich glaube, dass wir hinsichtlich der Nachfrage schon an einem Wendepunkt angekommen sind. Durch die Kostensteigerungen in allen relevanten Lebensbereichen können sich Haushalte mit kleinem Einkommen einen Neukauf oder Umstieg oft nicht leisten.“
„Wir haben mehrere Kippunkte“, analysiert Christoph Adunka von CarOnSale, der auch die langsame Aufarbeitung der Neuwagen-Bestellungen als Grund sieht, dass wieder Fahrzeuge zurückkommen. Wie schon im Vorwort dieser Ausgabe erwähnt, ist nun effiziente Analyse, vor­ausschauende Preiskalkulation und professionelles Gebrauchtwagen-Management gefragt. Denn eines ist klar: Ein erfolgreiches Gebraucht­wagengeschäft wird in Zeiten des ­Agenturvertriebs ­wichtiger denn je.