Galtür im Tiroler Paznauntal, 11. Juni 2023. Um 15:05 Uhr donnern plötzlich 100.000 Kubikmeter Gestein von einem Gipfel im Gemeindegebiet des Tiroler Tourismusorts zu Tal. Eine fast 2 Kilometer lange Mure ist alles, was von der einst stolzen Spitze des 3399 Meter hohen Fluchthorns übrig bleibt. Der Bergsturz im Paznauntal ist das Ausrufezeichen hinter eine Reihe von Meldungen, die von Ortschaften in Österreich berichten, die von Hangrutschungen bedroht oder betroffen sind: Hörbranz in Vorarlberg, Schwendau in Tirol, Wolfsberg in Kärnten.

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Geologen bestätigen, dass der aufschmelzende Permafrost in den Alpen mit hoher Wahrscheinlichkeit den gigantischen Abbruch am Fluchthorn auslöste, der zum Glück keine Menschenleben gefordert hat. Die Prognosen werfen Fragen auf wie: Werden wir Alpenbewohner am Ende selbst zu den Klimaflüchtlingen zählen, anstatt Klimaflüchtlinge aus anderen Ländern aufzunehmen?

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Klimadiskussion und Nachhaltigkeit
Zweifellos ist das Trendthema Nachhaltigkeit getrieben von der laufenden Klimakatastrophe. Aber die Dimensionen von Nachhaltigkeit sind deutlich vielfältiger. Die Vereinten Nationen haben in ihrer Agenda 2030 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die sogenannten 17 Sustainable Development Goals (SDG) beschlossen, welche eine gemeinsame Vision zur Bekämpfung von Armut und Reduzierung von Ungleichheiten darstellen soll. Maßnahmen zum Klimaschutz sind nur eines dieser 17 Ziele – neben hochwertiger Bildung, Arbeit und Wirtschaftswachstum oder Industrie, Innovation und Infrastruktur sowie vielen anderen. Auch Österreich hat sich zur Umsetzung der SDG bekannt und zitiert etwa die Förderung von erneuerbarem Wasserstoff als Energieträger oder das Programm „Zero Emission Mobility“ als Erfolgsgeschichten bei der Implementierung von nachhaltiger Entwicklung im Land.
Nachhaltigkeit ist keine neue Idee und geht deutlich weiter zurück als die Nutzung fossiler Energiequellen. Als Erfinder des Begriffes gilt der sächsische Berghauptmann Hans Carl von Carlowitz, der im Jahr 1713 in einer Publikation eine „continuirliche beständige und nachhaltende“ Forstwirtschaft einforderte, die nicht mehr Holz aus dem Wald entnehmen solle, als nachwachsen könne. Damit schuf der deutsche Beamte das bis heute gültige und mehr denn je aktuelle Prinzip des Wirtschaftens, dem auch dieses Heft gewidmet ist.

Schon im Originalwerk begegnen uns neben der Nachhaltigkeit als Titelbegriff auch die Idee, dass das Wirtschaften im Sinne des Gemeinwesens und mit Bedacht auf nachkommende Generationen (die „liebe Posterität“ nennt es Carlowitz) zu erfolgen habe. Denn für diese Nachkommen verwalte man die Ressourcen zu treuen Händen.

Dabei war der sächsische Hofbeamte kein Naturliebhaber und schon gar kein früher Öko-Aktivist. Er war damit beauftragt, den im Kurfürstentum ­herrschenden Holzmangel in den Griff zu bekommen, der auch die Eisenverarbeitung im Land bedrohte. Nutzung und Bewahrung sind die Schlüsselbegriffe von Carlowitz’ Definition von Nachhaltigkeit, und gerade darin liegt die Modernität seines Grundgedankens.
Auch dass die Nachhaltigkeit auf drei Säulen – Ökologie, Ökonomie und sozialen Gesichtspunkten – ruht, nimmt Carlowitz in seinem Werk vorweg. Heute spricht man von ESG – Environment (Umwelt), Social und Governance (Unternehmensführung) als den Teilbereichen, die sich nach nachhaltigen ­Grundsätzen richten sollen. Der Begründer des Nachhaltigkeitsbegriffs gilt bis heute als beispielhaft „für ein modernes Verständnis von Wissen für nachhaltige Lösungen, das aus Praxis und Wissenschaft kommt.“ So schreibt der deutsche Umweltwissenschaftler Günther Bachmann in einem Artikel über Carlowitz. Dieser verbinde Nachdenklichkeit und Pragmatismus und bringe technische Innovationen mit sozialen Rahmenbedingungen zusammen. „Nichts anderes ist heute gefragt.“

Man darf sich fragen, was einer wie Carlowitz zu sagen hätte über die moderne Landwirtschaft – etwa in Brasilien, das sich rühmt, seine Mobilität zu einem großen Teil mit Bio-Fuels zu betreiben, welche allerdings wohl nur deshalb in ­einem solchen Überfluss vorhanden sind, weil die Urwälder des Landes geradezu systematisch vernichtet werden.

Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der Wiener Universität für Bodenkultur, forscht zu politischen Dimensionen der Klimakrise und zur „politischen Bedeutung von Ausreden und Schein-Klimaschutz in allen Bereichen der Gesellschaft“. In einem Beitrag auf dem Radiosender Ö1 („Gedanken“, 11.6.2023) kritisiert er, dass nur an den kleinen Schrauben gedreht werde. „Das Urproblem der Klimakrise ist, dass wir das Problem verdrängen, verharmlosen und verleugnen“, so Steurer. „Wir halten uns am Schmäh, während uns die Physik um die Ohren fliegt.“ Er selbst habe erkannt, dass er längst mehr zu verlieren habe als seinen Ruf als Wissenschaftler, nämlich die Zukunft seiner Kinder. „Ich muss meinen Kindern in die Augen schauen können, wenn sie mich früher oder später fragen: Was hast du getan, um die Katastrophe zu verhindern?“

Umdenken notwendig
Steurer verteidigt etwa den Aktionismus der „Letzten Generation“ damit, dass die Staaten mehr und mehr hinter die vereinbarten Klimaschutzpfade zurückfallen. „Die Mehrheit will eben kein Gesetz zum Austausch alter Heizungen oder Tempolimits.“ Die Klimabewegung sei durchaus geeignet, ein Umdenken bei der Bevölkerung auszulösen, so Steurer, der die Klimaproteste mit Bürgerrechtsbewegungen des 20. Jahrhunderts in den USA vergleicht.

Best Practice
Abseits der fehlenden großen Würfe zeigen sich bei Unternehmen der Auto­branche, dass Kreislaufwirtschaft durchaus bereits Realität ist. So verweist etwa der oberösterreichische Batteriehersteller Banner seit Jahren darauf, dass seine Produkte eine hundertprozentige Recyc­lingquote aufweisen. Bei Škoda verbaut man Stoßfänger, die ohne Qualitätsverlust zu 100 Prozent aus rezyklierten Stoßfängern hergestellt werden, und setzt auch im Innenraum auf innovative, neue Materialien. Der für Nachhaltigkeit beim tschechischen Hersteller verantwortliche Vorstand Dr. Johannes Neft meint: „Die fast vollständige Wiederverwertbarkeit eines Autos ist die Idealvorstellung; im Volkswagen-Konzern haben wir uns eine Rückgewinnungsquote von mehr als 95 Prozent zum Ziel gesetzt.“

Längst hat man in der österreichischen Kfz-Wirtschaft die Bedeutung von gut ausgebildeten Fachkräften erkannt. Gilt die duale Lehrausbildung als international anerkanntes Erfolgsmodell, wird diese vor allem in großen Betrieben um eigene Initiativen erweitert, beim Recruiting von zukünftigen Lehrlingen setzen Betriebe auf moderne Kommunikationsmittel wie Social Media. „Wir drehen Videos für TikTok und Instagram, um mit diesen Kampagnen die Berufe Kfz-­Techniker und Karosseriebautechniker den jungen Menschen näherzubringen und es attraktiv zu machen, diese Berufe zu erlernen“, meint etwa der steirische Landesinnungsmeister Mst. Thomas Marichhofer. Bei der Vorbereitung auf die Lehrabschlussprüfung hilft eine App. 

Medien ebenfalls gefordert
Was der Populismus in der Politik, ist im Medienbereich der Boulevard. Da wie dort ist es eine Grundsatzentscheidung, welcher Philosophie man sich verschreibt. In den Redaktionen treffen die Verantwortlichen täglich die Entscheidung, ob man das Fähnchen nach dem Wind hängt oder auch unbequeme Wahrheiten aus- und anspricht, welche die Zielgruppe vielleicht gar nicht hören will.

Was alle, die Wirtschaft treiben, dieser Tage weltweit einen sollte, ist die 300 Jahre alte Carlowitz’sche Maxime, der zufolge wir alle Verantwortung gegenüber unseren Nachkommen tragen. Es sind ihre Ressourcen und ihre Zivilisation, ihre bewohnbare Biosphäre, die wir für sie treuhänderisch – und hoffentlich ­nachhaltig – verwalten.