Letztmalig war Essen der Austragungsort der Weltleitmesse "Reifen",
die unter der ideellen Trägerschaft des BRV 2018 ihr neues Zuhause in
Köln bekommt. Und: Die Räderbranche braucht tatsächlich einen
Tapetenwechsel.
Vor dem Hintergrund standortpolitischer und globaler
Ausstellerinteressen putzte sich ein letztes Mal die "Reifen Essen"
heraus und mit der Asiaten Hilfe füllten sich die Messestände zu
respektabler Größe. Das vor dem Hintergrund, dass die
Reifenwirtschaft aufgrund rückläufiger Märkte im
Ersatzbedarfsgeschäft mit ihren vielfältigen Vertriebsschienen in
eine Sackgasse geraten ist.
Es wird zu viel produziert, worunter wiederum die Vertriebshygiene
leidet und darunter vor allem der Reifenfachhandel, dem die
Industrieseite nach Auslegung der Kritiker die kalte Schulter zeigt.
Die Erkenntnis: Jeder muss sich selbst helfen. Am Ausleseprozess
führt kein Weg vorbei und da sitzt die Lieferantenszene auf dem
längeren Entscheidungsast.
Ursachenforschung und Neuorientierung
Daher wundert es nicht, dass so vieleösterreichische
Branchenvertreter wie schon lange nicht mehr nach Essen gepilgert
sind, um sich zu orientieren, mit wem man sich künftig
partnerschaftlich einlassen will. Die aktuelle Ruhdorfer-Pleite war
neben der Bundespräsidentenwahl Branchenthema in Essen.
Beim Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV), dem
ideellen Träger der Messe, stand indes Ursachenforschung auf dem
Programm. Verbandscapo Peter Hülzer adressierte sein Sündenregister
gleichermaßen an die Mitglieder aus Industrie und Handel, bekam
Zustimmung zur Situation, jedoch seitens der Lieferanten keine
Antworten zur Besserung der Lage im Reifenersatzbedarfsgeschäft.
Daher erachtet Hülzer einen Tapetenwechsel von Essen nach Köln für
sinnvoll. BRV-Expartner Messe Essen sucht sein Heil künftig unter dem
Dach der Automechanika in Frankfurt. Ergo rittern im Mai und im
September 2018 zwei Messen um die Aussteller- und Fachpublikumsgunst.
In Essen war ein Trend zur eigenständigen "Tyre Cologne" spürbar,
weil man sich unter der riesigen Werkstattmesse als Anhängsel um die
Eigenständigkeit der Reifenbranche gebracht sieht.
Drängendere Fragen suchen Antwort
Abwarten! Bis 2018 fließt noch viel Wasser den Rhein und den Main
hinunter. Also hat die Sanierung der Branche Vorrang. Die
Distributionskanäle Autohaus, Kfz-Werkstätten sowie B2B-Plattformen
expandieren zulasten des Reifenfachhandels. Zudem setzen die
Hersteller unter dem Begriff "kontrollierte Distribution" auf eigene
Vertriebsschienen, um den Markt beherrschen zu können.
Der Reifenfachhandel will sich seine Position als unverzichtbarer
Industriepartner aber zurückerobern. Über das Wie sind sie sich
völlig uneins.
Diese Schwäche wiederum macht sich die Industrie zunutze und wenn es
argumentativ heikel wird, baut man unter dem Begriff "Compliance"
gemeinsam eine Mauer des Schweigens auf.
In einer unter dem Slogan "Quo vadis Reifenfachhandel?" geführten
Diskussionsrunde zeigten sich die D-A-CH-Vertriebsspitzen Wolfgang
Thomale (Continental), Jürgen Titz (Goodyear) Anisha Taneja
(Michelin) und Pirelli-Deutschlandchef Andreas Penkert alles andere
als dialogbereit, speziell auf die Probleme des Reifenfachhandels
einzugehen.
Österreichs einzige Teilnehmer an der Mitgliederversammlung des BRV,
Ing. Walter Antosch (Hallein) und Mag. Klaus Kreisel (Hartberg),
wurden Ohrenzeugen, dass es zu viele Anbieter bei einem weiter
rückläufigen Ersatzbedarfsmarkt gibt. Daher sortiert die Industrie
nach eigenem Belieben durch Mengenund Preisdiktat das Anbieterfeld
aus .
Der Dialogbereitschaft wird zwar diplomatisch das Wort geredet,
faktisch herrscht Stillstand. Auf beiden Seiten weiß keiner einen
Ausweg aus diesem Patt, so wartet man darauf, dass der Konsument die
Antwort zur Lösung aufbereitet.
Ganzjahresreifenstrategie und RDKS-Kostenfalle
Die traditionellen Geschäftsmodelle im Reifenvertrieb sind in
Bewegung. Die Digitalisierung der Vertriebswege lässt B2B und B2C
verschmelzen. Die steigende Komplexität der Reifenprodukte erfordert
wiederum die Partnerschaft zwischen Industrie und Handel, denn nur
die öffnet den Verkaufserfolg zum Kunden. Die Bevorratungspraxis
orientiert sich mehr und mehr an der zunehmenden Digitalisierung in
der B2C-Welt.
Ohne Ehrlichkeit in der Partnerschaft mit dem Reifenfachhandel, so
das Credo der Industriesprecher, ist vieles in der
Vermarktungsliteratur Makulatur und beschleunigt lediglich
Verschiebungen in Zweit- und Drittmarken. Vom Mengenstreben
abzurücken ist für sie aber auch wieder keine Alternative. Also wird
der gnadenlose Verdrängungswettbewerb fortgesetzt: Die aktuelle
Preis- und Distributionspolitik zum Beispiel, drückt den
Konsumentenpreis im Internet mittlerweile auf
Fachhändler-Einkaufsniveau und sogar darunter.
Ganzjahresreifen-Strategien beeinflussen das ohnehin rückläufige
Sommer- und Winterreifengeschäft negativ. Wer - als weiteres Beispiel
-auf die konsequente Berechnung der Dienstleistung RDKS verzichtet,
mahnt der BRV, dem ist nichts mehr heilig und der probiert alles aus,
ohne die daraus resultierenden Konsequenzen für sich und die Branche
zu bedenken. Tendenziell ist der Anteil der Weiterverrechnung dieses
Kostenfaktors an die Kunden rückläufig. Mehrkosten aus der
RDKS-Bedienung nimmt der Reifenfachbetrieb teilweise oder ganz auf
seine eigene Kappe. Hier werden, wohl auch aus
Wettbewerbsdrucksgründen, neue Umsatzbringer schon im Anfangsstadium
vernichtet.
Flucht ins Autoservice-Geschäft
Erkennbar ist die Konzentration vieler Reifenfachhändler auf das
Geschäftsfeld Autoservice. Hier wird der Umsatz (Lohn und
Ersatzteile) mit 10 Prozent Zuwachs ausgewiesen. Dennoch, so der
Negativeffekt, liegt das Unternehmensergebnis bei vielen gerade noch
im Plus. Zu wenig Rendite für die Weiterentwicklung der Händler und
für Investitionen, wie VRÖ-Mitglied Mag. Klaus Kreisel vom
gleichnamigen steirischen Groß- nd Einzelhandelsreifenhaus
konstatiert.
Jedenfalls ist laut Hülzer die zunehmende Diversifizierung der
Werkstattleistungen in Richtung Autoservice ein ernst zu nehmender
Indikator für einen tiefgreifenden Strukturwandel in der Branche.
An dieser Entwicklung hält der BRV auch die Reifenindustrie für
mitschuldig, die durch unverminderte Überproduktion und mangelnde
"Markthygiene" ein Hightechprodukt mehr und mehr zur Massenware
verkommen lässt. Ob sich das an einem anderen Messeort bessern wird,
bleibt zu hoffen.