Sigmund Freud hat es schon 1917 gewusst: Unsere unbewusste Angst, unser Unbehagen fußt auf drei narzisstischen Kränkungen. Durch diese hat die Menschheit immer mehr an Bedeutung eingebüßt. Und jetzt werden wir schon wieder gekränkt: durch die künstliche Intelligenz: Es drohe uns die Gefahr, dass Computer bald die besseren Denker werden. Ist der Mensch jetzt endgültig ein Auslaufmodell?
Bei Kopernikus war es die Leistungsfähigkeit des gerade erfundenen Fernrohrs, das uns aus dem Zentrum des Kosmos eliminierte. Darwin entwickelte die Evolutionstheorie, die uns vom Thron der Schöpfung stieß. Und Freud erfand 1917 die psychologische Kränkung. Er bewies, dass wir nicht einmal Herr unseres eigenen Unterbewusstseins sind, das sich der Steuerung durch den eigenen Willen entzieht – und wir nicht einmal Kenntnis davon haben. Offenbar braucht unser Unterbewusstsein Schreckensbilder, um sich vor etwas Dämonischen, Unberechenbaren fürchten zu können.
Heuer am 30. April waren es dreißig Jahre, dass das Europäische Kernforschungszentrum CERN den Programmcode des World Wide Web zur allgemeinen Nutzung freigegeben hat. Bis dahin existierten nur gegeneinander abgeschottet Dienste wie der 1980 eingeführte Bildschirmtext BTX oder seit 1985 die karge Benutzeroberfläche „Quantum Link“ als grafischer Onlinedienst von AOL für Commodore--64-Benutzer. Deshalb entwickelten Physiker Komponenten für die Kommunikation zwischen diesen Netzen und deren Webseiten: das Seiten-Format HTML als technisches Protokoll für Links sowie URLs als Internet--Adressen. Mit den ersten Brow-sern ließen sich plötzlich alle Netze verknüpfen. Doch das WWW schuf damit kein neues Wissen: Es dient bloß als riesige Kopiermaschine zu dessen weltweiten Verteilung. Dennoch jagten seine Fähigkeiten den -Leuten -Schrecken ein.
Jetzt beschert uns die KI die vierte narzisstische Kränkung. Der von Nietzsche prophezeite „Übermensch“ ist gar kein Mensch, er ist eine Maschine! Schon vor 40 Jahren prognostizierten Experten, dass maschinelle Intelligenz bald jene der Menschen überflügeln wird. Eine Vorstellung, die gleichermaßen Furcht und Faszination auslöst. Die einen halten den Gedanken, dass Computer über ihren programmierten Horizont hinaus agieren und menschenähnliche Entscheidungsstrukturen entwickeln, für die ultimative -technische Entwicklung. Pessimisten befürchten hingegen nichts weniger als das Ende der menschlichen Dominanz auf ihrem Planeten.
Der Informatiker Douglas Hofstadter bezeichnete Anfang der 1980er-Jahre den Glauben der Menschen, dass nur lebende Wesen des Denkens mächtig seien, abfällig als „Biochauvinismus“. Seine Alternative war, das Wissen aller menschlichen Experten in einen Computer zu stopfen. Allein durch die einprogrammierten Regeln würde dieser auf die jeweiligen Fragen die richtige Lösung finden. Warum hat das nicht funktioniert? Weil menschliches Denken weit mehr ist als das stupide Abarbeiten mehr oder minder starrer Regeln. Somit ist es auch theoretisch unmöglich, diesen gigantischen Pool an Informationen – etwa durch BigData – in Form einer endlichen Anzahl an Regeln in den Computer zu füttern. So hat der Computerpionier Joseph Weizenbaum darauf verwiesen, dass der Mensch kein Computer sei – Maschinen folglich nie menschlich werden würden.
Tatsächlich steckt alles Wissen eines KI-Systems in einer sich ständig verändernden Gesamtstruktur – und nicht in einem expliziten Regelwerk. Es greift als „Über-Google“ unheimlich schnell auf alle Datenbanken des Internets zu. Diese Vernetzung dürfte der Funktionsweise des Gehirns sehr nahe kommen. Damit können – entsprechend trainiert KI-Systeme rasche und richtige Entscheidungen treffen. Doch sie sind Sklaven ihrer Anwender. Die Menschen mögen von Viren oder Meteoriten bedroht sein – von KI-Systemen eher nicht.
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