Wie weit kann der digitale Lackierprozess (digitale Farbtonfindung) konventionelle Abläufe heute bereits komplett ersetzen?

Joachim Walbrodt, Standox: Das ist weitestgehend eine Kopfsache. Schon heute kann auf konventionelle Abläufe verzichtet werden. Das gilt bestimmt für mehr als 90 Prozent aller Lackierungen. Die Diskussion muss man aber ehrlich führen. Auch mit der konventionellen Farbtonfindung gibt es Grenzfälle, wo man mit den herkömmlichen Mitteln nicht oder schwer zurechtkommt. Kann nicht mindestens beilackiert werden, muss man nuancieren. Und diese Grenzfälle kommen auch bei der digitalen Farbtonfindung vor. Nicht häufiger, sondern eher seltener. Die ermittelten Farbtöne per Messungen schneiden also nicht schlechter ab als diejenigen, die auf konventionellem Wege gefunden wurden. Da jeder Mensch ein unterschiedliches Farbsehvermögen hat, wird bei konventioneller Ermittlung am Ende subjektiv entschieden. Der Vorteil der digitalen Methode ist, dass auf einen um den Faktor 25 höheren Formelbestand tagesaktuell zurückgegriffen werden kann. Die Auswahl der zur Entscheidung vorgeschlagenen Farbtöne ist überschaubar und zeigt mindestens beilackierfähige Farbtöne. Darüber hinaus sind ganz neue Wege der Vernetzung von Daten, deren mobiler Einsatz und deren Sicherung möglich. Arbeitsabläufe können dahingehend verändert werden, dass sich Betriebe mit mehreren Standorten formeltechnisch austauschen können. Die Arbeitsvorbereitung kann professionalisiert werden mit dem Ergebnis kürzerer Durchlaufzeiten. Das steigert die Effizienz und hilft, Kosten einzusparen, etwa bei Ersatzfahrzeugen.

Christine Steingaß, BASF: Die Herausforderung des Lackierers besteht tagtäglich darin, aus zigtausend Farbtönen den richtigen zu treffen. Das erfordert mit der konventionellen Methode - also den Farbpaspeln - viel Erfahrung. Durch unser Spektrophotometer wird dieser Prozess stark vereinfacht und qualitativ deutlichverbessert. Das Messgerät ist mit einem Farbton- und Materialmanagement-System verknüpft. Die Ergebnisse können dann leicht über die zertifizierte Wi-Fi-Schnittstelle kabellos an den Computer im Mischraum übertragen und mit der Farbtondatenbank abgeglichen werden. Neben Überprüfung von Millionen von Messwerten innerhalb der Farbtondatenbank sorgt ein von BASF patentierter Such- und Korrekturalgorithmus dafür, dass die Messergebnisse des neuen Spektrophotometers in perfekte Reparaturlösungen umgewandelt werden. Dabei werden nicht nur die besten Treffer angezeigt, die Algorithmen liefern auch Korrekturvorschläge, die die Ergebnisse noch weiter verbessern. Farbtonvisualisierungen und Spektralkurven stellen dar, wie gut die vorgeschlagenen Lösungen zu den gemessenen Farbtönen passen. Die entsprechende Formel kann bei Bedarf direkt ausgemischt werden.

Marco Windbüchler, Spies Hecker: Unsere Erfahrungen zeigen, dass der digitale Farbtonfindungsprozess durch die Weiterentwicklung der vergangenen Jahre die alten, auf Farbkarten gestützten Prozesse fast zur Gänze ersetzen kann, wenn dabei nicht vorausgesetzt wird, dadurch auf die Beilackierung zu verzichten. Lediglich in speziellen Fällen, wie z. B. Mattlackierung, ist das digitale Auswahlverfahren noch nicht geeignet.

Rudolf Weismann, Cromax: Mit dem weltweit einzigartigen Farbtonfindungssystem von Cromax kann die Farbtonfindung in vielen Fällen bereits heute komplett digital erfolgen. Das ChromaVision Pro Mini Farbtonmessgerät kann dabei nicht nur den Farbton exakt vermessen, sondern erkennt als weltweit leistungsfähiges System sogar den Effekt und vermisst die Effektgröße. Die Kombination mit ChromaWeb, der weltweiten, Cloud basierenden Datenbank für Farbrezepturen, bildet ein unschlagbares System, mit dem Sie für jede Reparatur einen guten Farbton finden! In manchen Spezialfällen ist für eine perfekte Reparatur jedoch trotzdem noch eine Beilackierung oder auch teilweise eine Anfertigung von Spritzmustern notwendig. Dies kann auch das weltweit beste Farbtonmessgerät, wie ChromaVision Pro Mini, nicht verhindern. Manche Farbtöne sind so komplex, dass die Veränderung von Spritzdruck, Abstand und Umgebungstemperatur auch eine Veränderung des Farbtons bewirken kann.

Daniel Kapeller, AkzoNobel: Wir sehen in einer physischen Farbtondatenbank keine Zukunft. Mit AkzoNobel verfolgen wir, gemeinsam mit dem Kunden, die Strategie der Digitalisierung der Werkstatt, um die Prozesse effizienter, einfacher und sicherer zu gestalten. Aber vergessen wir nicht, im Zentrum der digitalen Hilfsmittel steht immer ein gut ausgebildeter Mitarbeiter, den wir bei jedem Arbeitsschritt sinnvoll unterstützen wollen. Dazu gehören cloudbasierte Software-Lösungen und hochmoderne Farbtonmessgeräte. Entscheidend für einen maximal effizienten Prozess ist, neben der Integration digitaler Tools, ein standardisierter Prozess, und der beginnt bereits bei der Fahrzeugannahme. Innerhalb des Betriebes können digitale Kommunikationssysteme wie unser Carbeat Prozesse optimieren, um Abläufe effizient zu managen. Das Ergebnis sind Zeitersparnis und Rechtzeitigkeit!

Werner Lanzerstorfer, PPG: Theoretisch ist es möglich und ich denke, dass wir in einigen Jahren vielleicht nur mehr digitale Farbtonfindung haben werden. Es gibt ja einen Generationswechsel, der das eventuell beschleunigt, aber zurzeit müssen wir einfach beides abdecken können -digital und konventionell.


Was bedeutet die Digitalisierung generell für den Karosseriebetrieb? Wo erfolgen die stärksten Veränderungen: Farbtonfindung/Lackierprozess, Kundenakquise/Kundenkontakt, Administration/Organisation?

Windbüchler, Spies Hecker: Hier ist kein in der Frage genannter Bereich auszuschließen bzw. zu favorisieren, da in der heutigen Zeit die Digitalisierung in allen Bereichen Einzug genommen hat und die Anwendungsgebiete progressiv zunehmen.

Weismann, Cromax: Im Bereich der Farbtonfindung bewegen wir uns mit dem System von Cromax bereits vollständig im digitalen Bereich. Das Thema Kundenakquise und Kundenkontakt wird sich verstärkt in die digitale Richtung bewegen. Doch der persönliche Bezug zum Kunden und auch die Mundpropaganda werden trotz der Digitalisierung weiterhin ein wesentlicher Faktor bleiben. Dies wollen wir uns auch im Zeitalter der Digitalisierung bewahren, um das gegenseitige Vertrauen und die Bindung zu unseren Kunden nicht zu verlieren.

Kapeller, AkzoNobel: Schadensmanagement ist ein wichtiges Thema. Es gewinnt rasant an Bedeutung und wird durch technische Entwicklungen in der Automobilindustrie zusätzlich beschleunigt. Unternehmen im Schadensmanagement sind stark miteinander vernetzt, denn bei einem Unfallschaden muss es schnell gehen. Heute sind noch Dienstleister zwischengeschaltet, morgen werden verunfallte Autos ihren Abschleppdienst automatisch holen. Und wohin wird der Unfallwagen gesteuert? Zu Netzwerkpartnern, die Qualitätsstandards vorweisen können - denn nur so können Transparenz und Sicherheit für alle Partner gewährleistet werden. Hier setzen wir mit unserem Acoat Selected Intense-Netzwerk an. Die Leistungen unserer Betriebe sind in Zukunft Dekra-zertifiziert und machen das Netzwerk zu einem qualifizierten Kooperationspartner für die Schadensabwicklung.

Lanzerstorfer, PPG: Die stärkste Veränderung hat sicher in der Farbtonfindung stattgefunden, da die Gerätehersteller immer bessere Hard- und Software zur Verfügung stellen. Die nächsten Schritte, die wir für unsere Kunden planen, sind in der Administration und Kontrolle sowie in der Beschaffung - hier starten wir in nächster Zeit eine Digitalisierungsoffensive. Weiterer Schwerpunkt ist das vereinfachte Ausmischen von Farben - da sind wir mit unserer vollautomatischen Daisy Wheel ja Vorreiter.

Walbrodt, Standox: Wir denken, dass alle von Ihnen genannten Bereiche davon betroffen sind. Perspektivisch im Vergleich zu heute wird sich aber sicher der Bereich Kundenakquise/Digitale Steuerung von Reparaturen durch Flotten, Versicherungen und Autohersteller weiterentwickeln und damit das "Einsammeln" von Aufträgen gänzlich anders ablaufen. Die digital aufgestellte Werkstatt ist dann Voraussetzung, um überhaupt am Markt teilhaben zu können.

Steingaß, BASF: Die Digitalisierung betrifft alle Bereiche. Das beginnt bei der elektronischen Terminvereinbarung, geht weiter über den Prozess der Farbtonfindung hin zur digitalen Abwicklung mit Versicherungen. Unsere Software bietet zahlreiche Tools über die Farbtonfindung hinaus. So kann beispielsweise der Werkstattinhaber damit seine Lagerbestände im Blick halten, die Verbräuche genau einsehen, seine Kennzahlen im Lackbereich auswerten, usw. Sie beinhaltet ebenso eine Schnittstelle zu anderen gängigen Werkstatt-Management-Systemen. Apps werden weiterhin die Arbeit vereinfachen. Unsere Kunden können bei uns bereits über die Order App bequem rund um die Uhr bestellen und natürlich auch über einen "eShop". BASF beschäftigt in seinem Headquarter ein Team von digitalen Experten, das fortlaufend an neuen Lösungen arbeitet, mit denen wir unsere Kunden unterstützen, sich im Markt zu behaupten.


Produktseitig wurden die Prozesse in den vergangenen Jahren stark optimiert. Welches Potenzial gibt es noch bei den Abläufen innerhalb der Betriebe?

Lanzerstorfer, PPG: Potenzial gibt es immer und ist natürlich von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, die Prozesse zu verbessern und zu beschleunigen. Wir helfen und beraten hier sehr viele Betriebe. Um alles auszuschöpfen, muss aber die Auslastung stimmen.

Weismann, Cromax: Es gilt einerseits mit dem technologischen Fortschritt Schritt zu halten, sich aber auch im organisatorischen Bereich stets weiterzuentwickeln. Hier ist Wissen der Schlüssel zum Erfolg. Deshalb unterstützen wir von Lack&Technik unsere Kunden intensiv mit Schulungen, die weitüber den Lackierbereich hinausgehen. Lack&Technik bietet in diesem Bereich z. B. Kurseüber die richtige Schadenskalkulation, den professionellen Ablauf einer Reparaturannahme und Fahrzeugübergabe und viele weitere Beratungen zur Optimierung von innerbetrieblichen Abläufen.

Walbrodt, Standox: Wir sehen durchaus noch ein Optimierungspotenzial in Richtung verkürzte Arbeitszeiten und Energieeinsparung durch den Einsatz darauf abgestimmter Produkte. Verarbeitungszeiten und Energieeinsparung sind die eine Seite. Die Erhöhung der Verarbeitungssicherheit die andere. Schlussendlich muss es das Ziel sein, kosten- und energieeffizient auch mit weniger geschultem Personal überzeugende Lackierergebnisse zu bekommen.

Steingaß, BASF: Unserer Erfahrung nach kann man das nicht so pauschal sagen. Die Betriebe sind ganz unterschiedlich, was effiziente Arbeitsabläufe anbetrifft oder auch Materialverbrauch. Das Thema nimmt einen unterschiedlichen Stellenwert ein und wird auch davon geprägt, wie sehr es "von oben" gelebt wird. Das geht natürlich auch über das Produkt Lack hinaus. Wichtig ist es, stets seine Abläufe zu hinterfragen und Verbesserungspotenziale kontinuierlich umzusetzen. 5S!, das Bodyshop Audit und der Service Check24 bzw. TopScan sind nur einige Werkzeuge, mit denen wir unsere Kunden dabei unterstützen. Unsere Anwendungstechniker sind entsprechend erfahren und ausgebildet. Was sicherlich für alle Betriebe gilt, ist, dass die Digitalisierung verstärkt in den Werkstätten Einzug hält.

Windbüchler, Spies Hecker: Neue Produktsysteme erlauben und fordern teilweise neu optimierte Prozesse, um die mögliche Effizienzsteigerung im vollen Maße nutzen zu können. Dieser Schritt wird viele Unternehmen vor die nächste große Herausforderung stellen.

Kapeller, AkzoNobel: In vielen Erstgesprächen und Beratungen bemerken wir, dass das Interesse besonders an den betriebswirtschaftlichen und prozessoptimierenden Leistungen, die wir im Rahmen von Acoat Selected anbieten, sehr groß ist. Das Thema PCE - Process Centered Environment -, aber auch die Partner für Partner-Seminare sind sehr beliebt bei unseren Kunden. Rückschließend liegt hier auch noch Optimierungspotenzial für die Betriebe. Insgesamt lässt sich sagen, der Schlüssel zum Erfolg liegt im effizienten Arbeiten. Nur so erreichen wir, dass die verkaufte Stunde wieder mehr wert wird.