HEUTE GEHEN WIR BENTLEY KAUFEN ODER TUN ZUMINDEST SO, ALS OB.
Nigel ist, man kann es nicht anders sagen, großartig. Er entschuldigt
sich gleich zu Beginn mit einem freundlichen Lächeln und einem
kräftigen Händedruck für sein schlechtes Deutsch, obwohl er meine
Sprache um einen Karl-Marx-Hof besser beherrscht als ich die seine.
"Dressed up to the nines" nennt man das, was im deutsch-Deutschen
"aus demEi gepellt" heißt und hierzulande unter "Einser-Panier"
firmiert. So steht Nigel vor uns, bereit, uns seinen Arbeitgeber
vorzustellen, dem er seit mehr als drei Jahrzehnten die Treue hält.
Den Arbeitgeber, der auch seine beiden Kinder beschäftigt; der Junior
hat sogar Nigels ehemaligen Arbeitsplatz eingenommen. Gelebte
Tradition, fast wie ein Familienbetrieb.
"Wieso fast?", möchte man unwillkürlich fragen: 1919 gründete Walter
Owen Bentley, der Jüngste von neun Kindern, das Unternehmen, nachdem
er mit seinem Bruder zuvor mit französischen Automobilen gehandelt
hatte. "Race on Sunday -sell on Monday" war das Motto jener Jahre.
Neben W. O., wie er bis heute firmenintern genannt wird, haben auch
die legendären Bentley Boys (finanziell schmerzbefreite Herren, von
Beruf Sohn) das Ihre zum sportlichen Ruf beigetragen. Freilich wurde
das Portfolio auch kritisch kommentiert, beispielsweise als
"schnellster Lastwagen der Welt" (© Ettore Bugatti). 1931 hatte sich
Rolls-Royce die insolvente Bentley Motors Ltd. einverleibt. Für viele
Jahre stand W. O.s Name nur mehr für geringfügig modifizierte
Rolls-Royce-Modelle. 1998 ritterten Ferdinand Piëch auf Seiten VWs
und Bernd Pischetsrieder im Sold BMWs um das Unternehmen - das
Ergebnis ist bekannt:
Der Name Rolls-Royce ging nach München, die Produktionsstätten in
Crewe und der Name Bentley wurden Wolfsburg zugesprochen. Nicht viel
Besseres konnte der Marke passieren. 10.120 Automobile mit dem
geflügelten B wurden 2013 an glückliche Kunden geliefert, niemals
waren es mehr. Im Gegenteil: Zur Jahrtausendwende zählte man exakt
1.749. Mit dem derzeit in der Entwicklung befindlichen (und 2016
lieferbaren) SUV sollen es gut 15.000 pro Jahr werden. Allein diese
Zahl zeigt, wie wichtig das Projekt für die Traditionsmarke ist.
Vermutlich werden nicht viele der künftigen Eigner wissen, dass im
Markenlogo links zehn, rechtsaber elf Federn vorgesehen wurden.
Hauptsache, sie haben das stärkste, schnellste (200 mph, also 320
km/h, sind trotz der gewaltigen Stirnfläche die Zielgröße) und vor
allem teuerste SUV am Markt, damit man bei der Falkenjagd nicht blöd
angeredet wird. Am Werksgelände werden seit der Standortentscheidung
für Crewe (also gegen Bratislava) 800 Millionen Pfund investiert, im
Personalbüro werden Einstellungsgespräche für 1.000 neue Jobs geführt
und die charmanten Damen der Presseabteilung haben im Rahmen unseres
Rundganges Gelegenheit, sich unauffällig vor der einen oder anderen
Skizze zu positionieren, um unsere Aufmerksamkeit stets auf die
Gegenwart zu lenken. Generell gilt beim Werksbesuch englischer
Sportsgeist: Wenn du dein fototaugliches Handy brav im Hosensack
lässt, müssen wir es dir nicht extra wegnehmen. Könnte ja sein, dass
Mutti anruft und die macht sich doch Sorgen, wenn du nicht erreichbar
bist.
Zuerst treten wir in einen kleinen Ausstellungsraum ein, der mit
allerlei Pretiosen geschmückt ist: Prototypen-Teile aus dem
3D-Drucker finden sich hier ebenso wie ein bis zum Dachhimmel mit
Ausstattungsoptionen hochgerüsteter Mulsanne, lehrreiche Schautafeln,
zwei historische Vehikel und ein Tonmodell des Continental GT. Das
teuerste Ausstellungsobjekt, wie Nigel betont: Die Arbeitszeit! In
einer Vitrine werden verschiedene Flying Bs ausgestellt. An der
Neigung des B erkennt der Profi den Produktionsort des unten an die
Kühlerfigur angeschraubten Wagens: London, Cricklewood, Derby oder
Crewe.
Weiter geht es in die große Fertigungshalle, ein denkmalgeschütztes
Objekt aus Ziegelsteinen. Dort kann man unbesorgt vom Boden essen.
Ich habe spontan ein schlechtes Gewissen, weil meine vom
Zwischendurchregen (England halt) nassen Schuhsohlen feuchte Flecken
hinterlassen. Doch noch feuchter ist der Traum, der sich mir hinter
der aufschwingenden Glastür offenbart, zum Greifen nah u n d
finanziell doch so fern: eine Halle voller Traumautos. Ein
Continental Cabrio in Unschuldsweiß, eines in
Einestundenachsonnenuntergangsblau und gleich daneben ein Coupé in
einer Farbe, die aus dem Traum einen Albtraum macht. Die
Seitenleuchten lassen es vermuten, Nigels routinierter Griff zum
Datenblatt gibt Gewissheit: Janatürlichschweinderlmetallic ist für
die USA bestimmt. Noch netzhautbelastender war das Auto, das sich ein
Kunde aus China letztes Jahr konfiguriert hatte: Rosa außen. Rosa
innen. Rosa alles und überall. "Hello Kitty Car" habe man den Wagen
genannt, berichtet Nigel und leitet uns zum Höhepunkt der
Bandproduktion: die Hochzeit. Jener Ort, an dem der Motor in seine
Hülle gepflanzt wird. In diesem Zusammenhang sollten Sie vielleicht
erfahren, dass Werksführungen nicht nur für Berichterstatter derWeltpresse organisiert werden, sondern auch für normale Menschen,
primär freilich dann, wenn sie sich den einen oder anderen Bentley
kaufen, vor Ort die Details (Honey, welches Wurzelholz passt besser
zu meiner Handtasche?) konfigurieren oder grad nix Besseres zu tun
haben (wie David Cameron, dereigentlich das Land rund ums Werk
regieren sollte, aber dennoch gern zu Besuch war)."Ich hab" schon so
viel gesehen, mich kann nichts mehr beeindrucken", war vor einigen
Monaten der Standardspruch eines Kunden von Nigel, dargebracht bei
jeder Station am Rundgang. "Übrigens, in dieser Farbe habe ich meinen
Bentley bestellt", sagte der Herr an jener Station, wo die Vermählung
dadurch stattfindet, dass 36 Bolzen Fahrwerk und Karosserie zu einem
Ganzen verbinden. "Das ist ihr Auto", antwortete Nigel lächelnd, was
nach einer Schweigeminute mit einem "o. k., jetzt bin ich
beeindruckt", quittiertwurde. Und Nigel lächelt auch, wenn er diese
Geschichte erzählt. Er lächelt wie ein Großvater, der seinen Enkeln
beim friedlichen Spiel zusieht, warmherzig, voller Liebe und Güte.
Die Hochzeit ist eine von 62 Stationen, die ein Continental
durchfährt, bevor er gefahren wird. 62 Stationen und nur zwei
Roboter, bei der Hochzeit und für das Auftragen des Klebers am Rand
der Windschutzscheibe. Davon abgesehen sind es Männer und Frauen, die
Hand an die Automobile legen. Zweitürer und Viertürer, also GT/GTC
und Flying Spur, wechseln sich jeweils am Band ab, und ein ganzer Tag
vergeht, bis das Auto aus seinen präzise ans Band angelieferten
Komponenten fertiggestellt ist. Dreht man sich um, so steht man vor
der Fertigungsstraße des Mulsanne. Das Topmodell, um den Terminus
"Dickschiff" zu vermeiden, verbringt eine ganze Woche am Band. Nur
ein Beispiel: 25 Kilogramm Farbe werden händisch aufgetragen und 22
Stunden vergehen allein, bis das Metallfinishing der 586 Kilogramm
schweren Rohkarosse den Auftrag der Grundierung gestattet. 5.800
Schweißpunkte. Drei Kilometer Kabel, die gemeinsam 50 Kilogramm
wiegen. Gut 2.000 Teile, ohne die Schrauben und Muttern zu
berücksichtigen. Unterm Strich stehen beim Mulsanne 500 Stunden
Arbeitszeit. Derweil hätte man auch 20 Golfs zusammenschrauben
können.
Von 7:00 bis 15:30 Uhr läuft der Ein-Schicht-Betrieb, nur bei Holz
und Leder wird in zwei Schichten gewerkt. "Ein Tag" ist also flott
dahingesagt, aber lachhaft, wenn man miterleben darf, wie manche
Einzelteile Gestalt annehmen. So wird beispielsweise das gewünschte
Holzfurnier bei exakt 153 Grad Celsius auf den Aluminiumträger
gepresst und mehrfach lackiert, geschliffen und poliert, bis es
endlich in die Nachbarhalle übersiedeln darf. Allein nach der ersten
Lackierung liegt das Teil drei Tage in der Hitze, damit der Lack jene
als Cellulite bekannte Dermopanniculosis deformans bildet, die später
eh wieder weggeschmirgelt wird. Bis die hölzernen Interieurelemente
einbaufertig sind, vergehen im Nu flockige fünf Wochen, nicht
eingerechnet jene drei Wochen, in denen das kringelige
Wurzelholzfurnier zuvor in der Klimakammer lagert. Selbige hat eine
automatische Schiebetür, damit Temperatur und Luftfeuchtigkeit die
perfekte Weiterverarbeitung ermöglichen (und der faszinierende Geruch
nicht in den endlosen Weiten des Woodshops verloren geht). 250.000
Pfund lagern in den Regalen, schätzt Nigel, aber ganz genau weiß er
das nicht. Über 100 Jahre alte Bäume sind es, die ihren Wurzelstock
spenden, damiter später gekocht und sauber in 0,6 Millimeter dünne
Platten geschält wird, wie bester Parmesan mit dem Käsehobel.
Chesnut. Madrona. Dark Stained Burr Walnut. Dark Fiddleback
Eucalyptus. Undsoweiterundsofort. Fünf Quadratmeter Holz werden pro
Auto benötigt und bevor Sie jetzt überrascht in die Garage gehen und
Ihre Bentleys vermessen, dürfen wir Sie daran erinnern, dass nur 17
Ihrer persönlichen 24 Furnierschichten aktuell im Mobil verbaut sind.
Die anderen sieben liegen unter der Fahrgestellnummer kartiert in
Crewe auf Lager, falls Sie im Straßennahkampf nachhaltigen
Feindkontakt gewärtigen müssen. Oder würden Sie gern
Maserungsabweichungen zwischen der Navigationsbildschirmabdeckung am
Instrumententräger und der Innenverkleidung an der rechten hinteren
Tür erdulden? Oder gar zwei verschiedene Bäume spazieren fahren?! Na
eben. Täten Sie sich allerdings für das im Lookder Zwanziger-Jahre
kreisrund geschliffene Aluminium-Dashboard (fragen Sie nach "Bright
Engine Spin") anstelle des auf Fahrer-und Beifahrerseite gespiegelten
Furniers entscheiden, soll uns das auch recht sein. Sehr fesch, keine
Frage, aber gut riechen tut das genau gar nicht.
Schön langsam wird es Zeit für einen Imbiss. Ein paar Sandwiches
liegen bereit, ein paar alkoholfreie Getränke stehen daneben Spalier.
Luc steckt den Kopf zur Tür herein, schüttelt die Besucherhände,
greift sich ein belegtes Brot und setzt sich zum Plaudern. Luc trägt
einen Rollkragenpullover, den Nachnamen Donckerwolke und war früher
in Jungbunzlau bei Schkodda, wie er es nett ausspricht, unter
Vertrag. In Sant"Agata Bolognese hat er auch gearbeitet, dort mit
einem Geodreieck bewaffnet den Gallardo und den Murcielago gezeichnet
und heute spitzt er seinen virtuellen Bleistift für Bentleys jüngstes
Kind. Man kann sich, kennt man den Entwicklungszyklus eines
Automobils im Groben, leicht ausrechnen, dass in seinem Büro bereits
jene 3D-Datenmodelle, die man beispielsweise bei Range Rover nicht
gänzlich desinteressiert zur Kenntnis nähme, über die Bildschirme
flimmern. Und man kannsich weiters ausrechnen, dass das, was EXP 9F
genannt, am Genfer Salon 2012 auf feiste Dreiundzwanzigzöller
gestellt und ebendort dem sabbernd mit dem Scheckbuch wedelnden
BRIC-Publikum (Brasil, Russia, India, China) gezeigt wurde, so nicht
auf die Straße kommt. Trotz der 2.000 getätigten Vorbestellungen.
Ein Schelm, wer beim Weckerlkauen mit dem Designchef das nach einem
Berbervolk aus dem Grenzgebiet zwischen Algerien, Libyen, Mali und
Niger benannte Modell aus Wolfsburg ins Gespräch bringt (oder gar
Reinhold Messners sagenumwobenen Himalaya-Schneemenschen) - aber
natürlich ist klar, dass Bentley gern auf den großen Matadorbaukasten
des VW-Konzerns zurückgreift. Es ist ja auch kein Geheimnis, dass der
weit unter seinem Wert geschlagene Phaeton und der Continental
Blutsbrüder sind. Natürlich ist es alles andere als ein Zufall, dass
der eine oder andere Q7 mit interessanten Spaltmaßen und unüblich
geformten Karosserieelementen durch das Werk rollt, vollgepackt mit
Messinstrumenten. Und natürlich ist auch klar, dass jeder Versuch,
die Plauderei in die Richtung der sportlichen Nützlichkeit zu
schubsen, lächelnd pariert wird.
Stichwort Hybrid? Der würde, zumal als Plugin, gut zu Bentley passen,
weil flüsterleise in der elektrischen Fortbewegung. 2017 wird der
Konjunktiv der Vergangenheit angehören. "Hybrid ist kompatibel", wie
Luc es formuliert, im Gegensatz zum Reizwort "Diesel": Man steigt auf
der Tankstelle in die von hastigen Kleintransportgewerbetreibenden
ausgepatzten Lacken am Boden, macht sich darob die Ledersohle
schmutzig, steigt mit selbiger wiederum auf den hellen Flor der
Bodenbespannung im Wagen "Schuhe hin, Teppiche hin -will man das?"
Luc versteht es, rhetorische Fragen bereits beantwortet zu haben,
bevor sie in den Raum gestellt wurden. "Unsere Kunden belohnen sich
mit verschiedenen Spielsachen für verschiedene Bedürfnisse", was
Flugzeuge und Boote logisch miteinschließt, Themen wie Normverbrauch
hingegen eher nicht. In der Welt der typischen Bentley-Kundschaft
existiert das Wort "oder" per se nicht, Ferrariund Porsche seien
selbstredend auch in der Garage zu finden. Und der eine oder andere
Range Rover sowieso, doch man sei ja jetzt an dem Thema dran, sagt
Luc, bevor er wieder über die belegten Brote und das köstliche
Ingwer-Zitronen-Getränk namens "Ginger Beer" spricht. Gut, das
überrascht uns nicht: Die Queen lässt sich ja auch in der auf dem
Bentley Arnage basierenden State Limousine zwischen Kronjubiläum und
Corgi-Hundfrisör chauffieren, während sie im Garten ihrer
Sommerfrischewohnung in Balmoral mit dem Defender höchstselbst ins
Unterholz einbiegt.
Bevor sich Luc noch verplaudert, schubsen ihn die Herrinnen derÖffentlichkeitsarbeit elegant aus unserer Reichweite. Wir für unseren
Teil ziehen derweil nicht vom Leder, sondern zum Leder: Bullenhaut
aus Skandinavien oder Süddeutschland steht im Fokus des frühen
Nachmittags, Regionen mit geringer Mückenpopulation und
Stacheldraht-freier Haltung. "Conolly"wird der automobile Kenner
jetzt vermuten, doch dieses Unternehmen schlitterte Anfang der
Nullerjahre in die finanzielle Bredouille. Pasubio, gleichnamig dem
Schauplatz blutiger Schlachten zwischen italienischen und
österreich-ungarischen Truppen im ersten Weltkrieg, ist der Name des
liefernden Vertragspartners, gegerbt wird in den USA. (Irgendwie
lustig, dass die Hülle des Rindsviechs schon zuvor in den Staaten
war, wenn das fertige Auto dorthin geliefert wird.) Auch die
kleinsten Unsauberkeiten werden mit Ölkreide markiert, bevor die
aufgespannte Haut unter dem Scanner landet. Auf den perfekten Teilen
schneidet der Computer mit geringstem Verschnitt in affenartiger
Geschwindigkeit die benötigten Teile mit einer Art Pizzarad aus. "Wir
waren früher mit unseren Schablonen sehr effizient und sehr schnell",
erinnert sich Nigel. "Aber der Computer ist nochmals ein
Qualitätssprung." Keine Sekunde zweifeln wir daran, dass genau das im
Vordergrund steht: Die Qualität des Produkts, die den verlangten
Preis auch rechtfertigen muss.
Je nach Schnittmuster werden neun oder zehn Häute für einen
Continental benötigt. Für die 486 Lederteile eines Mulsanne sind 16
bis 17 Häute erforderlich. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist
jeder Bentley klimaneutral unterwegs - so viele Rindsviecher, die
jetzt nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre rülpsen und furzen!
Vorbei an einem Regal mit tiptop bezogenen Referenzsitzen für jede
Baureihe schreiten wir zu emsig ratternden Stickmaschinen, die die
Geräuschkulisse über das in dieser Manufaktur sonst übliche Ausmaß
heben. 5.103 Stiche in sechs Minuten: Dann ist ein Bentley-Logo in
den Rohling eines Kopfstützenbezugs eingearbeitet. Natürlich können
Sie anstelle der Doppelschwinge auch Mickey Mouse, Hello Kitty oder
Ihre Initialen bestellen. Vorrätig ist selbst das Stickprogramm mit
dem Wappen derer von Windsor, aber bitte fragen Sie wirklich nur dann
danach, wenn Sie zu ebendieser Familie gehören. Ein guter Kunde hat
sich einst beim Kopfteil des zum Interieur des Wagens passenden
Leder-Kindersitzes statt des Bentley-Wappens für den Schriftzug
"Brooklyn" entschieden, erzählt Nigel, ohne auf den Kunden näher
einzugehen. "Ist es nicht so, dass sich das britische Promipaar David
und Victoria bei der Wahl des Kindsnamens für jenen New Yorker
Stadtteilentschieden hatte, in dem der Knabe einst gezeugt wurde?",
wollen wir wissen. Nigel lächelt, schweigt diskret und wird auch die
Frage, ob Romeo, Cruze und Harper ebenso personalisierte Kindersitze
bekamen, nicht beantworten.
Dafür erfahren wir den Zeitbedarf für schmucke Kreuzstiche, die die
Lederteile des Innenraums bei gekonnter Kontrast-Farbwahl aufwerten:
37 Stunden Mehraufwand. Weil "normal" vernäht wird das Leder ja
sowieso. Über 600 Meter Faden sind zusätzlich vonnöten. Und da haben
wir noch nicht die diamantförmig gesteppten Sitzbezüge und
Türverkleidungen in Betracht gezogen. Sie ahnen ob dieser Details
gewiss bereits, dass beim Konfigurieren eines Bentleys nicht um
Preise gefeilscht wird und ob die hochflorigen, mit kontrastfarbigem
Leder eingefassten Fußmatten gratis dabei sind. Beim Konfigurieren
eines Bentleys spricht man über Wünsche und Ideen, über Erinnerungen
und Hoffnungen. Im Werk wurde ein feudales Kaminzimmer, der "Living
Room", dafür eingerichtet.
Zahllose Schubladen beherbergen Farb- und Materialmuster und zu jedem
hat Nigel mindestens eine Geschichte. Die des Kunden, der seine
Seidenkrawatte abgenommen und als Farbreferenz hinterlegt hat oder
jene der Dame, die ihrem persönlichen Verkaufsberater beim Hausbesuch
in Übersee die Fingernägel in den Wunschfarben der
Mulsanne-Zweifarblackierung bepinselt hatte, weil sie ihm die
Fläschchen nicht mitgeben wollte. (Selbstredend musste der tapfere
Mann bei der Passkontrolle zur Wiedereinreise ins Königreich ein paar
zusätzliche Fragen beantworten.) Ein sehr hübsches Pastellblau heißt
intern Blender Blue, benannt nach dem Küchenmixer, den der künftige
Bentley Boy in der Aktentasche mitführte. Und das Fender Sonic Blue
hat seinen Namen von einer klassischen E-Gitarre, einer Telecaster
aus 1963. Kundenbeziehungenwerden hierorts auf einem Niveau
gepflegt, das man sich freihändig nicht vorstellen kann. Zeigt sich
ein Kunde beispielsweise in einem Halbsatz überrascht, eine
Dinner-Einladung mit Kugelschreiber-Unterschrift zu bekommen, wird
künftig jedes Schreiben an ihn mit Füllfeder unterzeichnet. Und dieWeihnachtskarte schreibt ihm der Custom Relationship Manager seither
gleich komplett mit der Hand.
Zum Abschluss leitet uns Nigel noch zur Station, an der jenes Bauteil
entsteht, an dem man sein Auto amöftesten berührt: Das Lenkrad. Das
Arbeitspensum ist enorm, der Output gut überschaubar: Eines vor dem
Lunch, eines danach und wenns besonders gut läuft, sogar zweieinhalb
pro Tag, denn Holz-Leder-Kombinationen sind logischerweise schneller
fertig. Da werden nur drei Stunden pro Volant kalkuliert. Beim
Mulsanne-Lenkrad ist hingegen alles unter fünf Stunden unrealistisch.
Aufwand, der sich auszahlt, sind doch rund 80 Prozent aller jemals
gebauten Bentleys - rund 100.000 Stück - noch in Gebrauch, um nicht
zu sagen: in Kundenhand.
Konzentriert arbeiten die Damen und Herren und lassen sich dennoch
gern von uns unterbrechen. Sie machen während ihrer Tätigkeit ein
fröhliches Gesicht, auch wenn sie gar nicht merken, dass sie
beobachtet werden. Mit welchem Werkzeug die exakten Abstände der
Stiche gesetzt werden, wollen wir wissen - und bekommen von Nigel
lächelnd eine Gabel präsentiert.