Im September 2023 startete der Autoreifenhersteller Pirelli an seinem Fabrikstandort in Breuburg (D) mit einer neuartigen virtuellen Testumgebung. Das sogenannte Virtual Development Center im Herzen des Fabriksgeländes soll künftig bei der Entwicklung von neuen Reifen eine große Rolle spielen, wie Thomas Michel, Chief Technical Officer bei Pirelli Deutschland, erklärt: „In unserem VDC können wir Reifen entwickeln, die es in der Realität noch gar nicht gibt, sondern die uns die Automobilhersteller als digitale Modelle zur Verfügung stellen. Was früher Stunden oder gar Tage gedauert hat, ist heute oft in wenigen Sekunden erledigt. Es ist eine Art virtuelle Reifenfabrik.”
Die Ingenieure von Pirelli sparen sich so vor allem Material und Zeit. Denn in der virtuellen Umgebung können die Prototypen des Reifens schon annähernd an das fertige Produkt entwickelt werden. Man spare sich so laut Pirelli die Produktion von 1 bis 2 Test-Reifen. „Es geht vor allem darum, dass wir Ressourcen sparen”, so Michel.
Fahrgefühl wie in einem echten Fahrzeug
Gefahren werden muss mit den Reifen im Virtual Development Center natürlich auch, zunächst mehrere Stunden im Simulator. Ein umgebauter Porsche 911 steht dabei als Fahrzeug zur Verfügung. Die Spezifikationen des Reifens sowie des Fahrzeuges werden in den Simulator geladen, die Testfahrer verbringen dann mehrere Stunden auf virtuellen Teststrecken, um den Reifen auf Herz und Nieren zu prüfen. Zum Einsatz kommen hier nicht nur visuelle Eindrücke, sondern auch die Haptik spielt eine große Rolle. So wurde der Fahrersitz mit Motoren ausgestattet, die das Beschleunigungs- und Bremsgefühl nachbilden sollen. Außerdem sorgt eine Soundanlage mit großem Subwoofer dafür, dass man die Straße und die Rollgeräusche hört und auch spürt. „Die Ingenieure erkennen dadurch, wie das Fahrzeugverhalten durch Lenk-, Beschleunigungs- und Bremseingriffe am virtuellen Fahrzeug beeinflusst wird oder werden sollte”, erzählt Florian Waffenschmidt, Head of VDC bei Pirelli Deutschland.
Ohne Testfahrt geht es nicht
Wenn der Prototyp des Reifens digital fertig ist, wird er in der Fabrik gebaut und dann auch tatsächlich mit dem Fahrzeug auf der Teststrecke getestet. Die Testfahrer von Pirelli arbeiten hier immer projektbezogen. Vom ersten Entwurf bis zum fertigen Produkt vergehen in etwa 3 Jahre – in dieser Zeit testen die Fahrer den Reifen virtuell und auch unter realen Bedingungen. Thomas Michel, CTO bei Pirelli Deutschland, sieht das als Vorteil: „Man kennt den Reifen dadurch schon und kann erahnen, wie er sich zu verhalten hat. Natürlich ist die Fahrt im echten Auto noch einmal etwas anderes. Aber in Kombination ist das ideal.”
Entwicklung für E-Fahrzeug-Reifen
Dass sich das Virtual Development Center bei Pirelli bezahlt macht, zeigt sich nicht zuletzt auch bei der Entwicklung von Reifen speziell für E-Fahrzeuge. Hier hat man in den vergangenen Jahren neue Materialien entwickeln müssen, um den Ansprüchen von E-Fahrzeugen gerecht zu werden. Das VDC hilft hierbei, wie Thomas Michel erklärt: „Dass wir explizite E-Auto-Reifen herstellen, liegt ganz klar daran, dass die Anforderungen der Fahrzeuge es erzwingen. Ein E-Fahrzeug hat ein hohes Gewicht und Drehmoment. Energieeffizienz ist hier das Thema. Und da spielt der Reifen eine große Rolle. Zudem müssen wir Rollwiderstandsziele erfüllen, die in den letzten Jahren enorm gestiegen sind.”