Misere mit Lehre?

Misere mit Lehre?

Fachkräftemangel fängt bei den Jungen an. Wir haben nachgefragt, wie es um die Lehre steht.

Die Bilder von Österreichs Lehrlingen auf den Siegerpodesten internationaler Wettbewerbe stehen in krassem Gegensatz zu dem, was man aus Ausbildungsbetrieben hört. "Das Basiswissen und auch die Einstellung zum Beruf sind verlorengegangen", resümiert Ing. Heribert Werginz mit gewisser Resignation. Wir fragen denWerkstattbetreiber und Vorsitzenden der Prüfungskommission für Kfz-Lehrabschlussprüfungen, wie groß die Misere bei der Lehre denn tatsächlich ist. Er erzählt von Prüflingen, die einfachste Berechnungen nicht durchführen können, die Grundlagen nicht kennen, aber auch davon, dass selbst in den Prüfungssituationen eine gewisse Gleichgültigkeit nicht zu übersehen ist. "Dann geh" ich halt nachhause", habe er von einem Prüfling zu hören bekommen, der es scheinbar nicht nötig hatte, auf Fehler hingewiesen zu werden.

"Wir haben das Niveau bei den Prüfungen gesenkt, was ein Fehler war", beklagt Werginz, der von Frustration auch unter den Prüfern berichtet. Die Jugend müsse gefordert und gefördert werden. Aber Versuche, Projekte ins Leben zu rufen, mit denen die Jungen angestachelt werden, scheitern leider oft. Der Unternehmer und Kfz-Sachverständige kritisiert sowohl die Schulen, in denen bloße Anwesenheit in der Klasse für ein "Genügend" oft ausreiche, als auch Betriebe, in denen Lehrlinge nicht systematisch mit allen Grundlagen nach und nach vertraut gemacht würden. Dies funktioniere eigentlich nur noch in großen Betrieben undLehrwerkstätten. Aber er bemängelt auch, dass der Wille bei den Jungen selbst abnimmt, sich mit dem Gelernten später selbstständig zu machen.

Dabei sind Lehrabsolventen nach wie vor die mit Abstand größte Gruppe unter den Unternehmern. 35 Prozent der Selbstständigen in Österreich geben einen Lehrabschluss als höchste Ausbildung an. Im Vergleich: Nur 23 Prozent der Unternehmer sind Akademiker.

Wertvoll für die Wirtschaft

Komm.-Rat Fritz Nagl, Bundesinnungsmeister der Kfz-Techniker, plädiert dafür, den Wert der Lehre für die Wirtschaft und damit die Gesellschaft insgesamt anzuerkennen. "Ein Lehrling verdient vom ersten Tag an sein eigenes Geld, er liegt der Gesellschaft sozusagen nicht auf der Tasche." Deshalb mache es auch für den Staat Sinn, sich mehr für die Lehre einzusetzen - und für die Betriebe, die Lehrlinge ausbilden und den dafür notwendigen hohen Zeitaufwand in Kauf nehmen. Das sei insbesondere bei kleineren Unternehmen mit Schwierigkeiten verbunden. "Die Betriebe könnten mehr Engagement zeigen, wenn der Staat Geld für die Lehrausbildung in die Hand nimmt." Im Gegenzug könne der Staat dann auch überprüfen, ob in den Betrieben auch die Lehrinhalte vollinhaltlich vermittelt würden.

Am Schicksal der Lehre hänge nicht zuletzt auch die Zukunft des Gewerbes ab -ein für den Wohlstand in Österreich entscheidender Faktor. "Zu den bekannten Problemen muss man immer dazusagen: Wir bilden nach wie vor sehr viele Spitzenkräfte heran."

Mangelnde Vorbildung

Eines dieser Probleme konstatiert Arthur Clark, früherer Bundesinnungsmeister der Karosseriebautechnik und Betriebsgründer: "Es fehlt den Jungen, die in die Lehre kommen, ein Maß an Grundwissen." Die jungen Leute seien heutzutage -vor allem im städtischen Umfeld - von zuhause her den Umgang mit Werkzeug nicht gewöhnt. Clark erzählt von Bewerbern für eine Lehrstelle, die z. B. nicht wussten, was eine Kombizange ist. "Da wird der Weg dann schon verdammt lang."

Dazu kommt, dass nach der Pflichtschule alle in die höheren Schulen drängen. "Die Eltern wollen ihren Kindern etwas Besseres bieten", sagt Bundesinnungsmeister-Stv. Erik Paul Papinski (siehe Umfrage S. 18),"und zwar unabhängig von der Eignung." Hier würden Kinder in eine schulische Ausbildung gezwungen.

Weniger Junge, weniger Ausbilder

Dass die Lehre insgesamt an Bedeutung verliert, ist durch Zahlen belegbar. In den vergangenen 10 Jahren sank die Zahl der Lehrlinge inÖsterreich von knapp 130.000 auf unter 107.000. Zwar scheint sich der Abwärtstrend einzubremsen, für 2017 meldet die WKO einen Anstieg der Zahl der Lehranfänger. Doch Ende der 1970er lag die Gesamtzahl der Lehrlinge im Schnitt über 190.000. Betrachtet man nur die Sparte "Gewerbe und Handwerk",sank die Zahl der Lehrlinge zwischen 2007 und 2017 von 61.500 auf 44.600. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Betriebe, in denen Lehrlinge ausgebildet werden. Um mehr als 25 Prozent weniger Betriebe als noch 2007 bilden heute den eigenen Nachwuchs aus. Neben den Schwierigkeiten, geeignete Bewerber zu finden, sind auch die Kosten ein Faktor. "Früher hat man gesagt, ab dem 2. Lehrjahr ist der Lehrling ein Gewinn. Heute ist er bis zur Gesellenprüfung eine Investition", sagt Clark. "Die Betriebe tun sich das nicht mehr an." Wie Nagl sieht auch Clark das Image- Problem hauptsächlich in den Städten,am Land habe die Lehre noch einen besseren Ruf.

Die große Prüfungsangst

Dass viele Lehrlinge zwar ihre Lehrzeit vertragsgemäß beenden, aber dann gar nicht erst zur Prüfung antreten, sorgt ebenfalls für Kopfschütteln - ein zum Teil systemimmanentes Problem, glaubt OSR Dipl.-Päd. Markus Fuchs, Direktor der Siegfried Marcus Berufsschule in Wien. "Wenn die Gymnasiasten die Wahl hätten, ob sie zur Matura antreten unddiese dann extern ablegen müssten, wäre das dort genauso", glaubt er. Für viele Lehrlinge ist die Prüfung ein starker Systembruch - unbekannte Prüfer, unbekannter Ort - mit allen damit verbundenen Unsicherheiten. "Hier müssen wir klarer machen, dass die Prüfung zur Ausbildung dazugehört." Statistisch ist die Zahl der Lehrabbrecher allerdings das deutlich größere Problem. Über 13 Prozent der Lehrlinge beenden die Lehrzeit nicht -die "überbetriebliche Lehrausbildung"(ÜBA), in der z. B. Jugendliche mit Lernschwächen eine Ausbildung mit Vor-bzw. Teilqualifikation bekommen, nicht mitgerechnet. Von denen, die ihre Lehrzeit in einem Betrieb ordnungsgemäß beenden, treten dann 4 Prozent nicht zur Prüfung an, weitere 4,6 Prozent scheitern, auch wenn sie mehrmals antreten.

Der unterste Einstieg

Was - unfairerweise - das Image der Lehre in deröffentlichen Meinung weiter abwertet: Jugendliche, die früher meist mit großer Wahrscheinlichkeit als Hilfsarbeiter ins Arbeitsleben eingetreten wären, finden heute in der überbetrieblichen Berufsausbildung (ÜBA) einen Lehrplatz. 2017 hatten in Österreich 9.100 Jugendliche einen solchen. "DieLehre ist heute der unterste Berufseinstieg", stellt Fuchs klar.

Gleichzeitig ergeben sich durch das Angebot von Vor- und Teilqualifizierung an den Schulen eine Vielzahl von Lehrzeit-Varianten (siehe Grafik) - pädagogisch und organisatorisch ein beträchtlicher Aufwand. "Bei uns ist das Ende des Wintersemesters ähnlich stressig wie das Ende des Schuljahres", so der Berufsschuldirektor. "Von 400 Anfängern an der Siegfried Marcus Berufsschule werden wir heuer erstmals mehr als die Hälfte mit einem überbetrieblichen Ausbildungsvertrag hier haben, die eine ,Ersatzlehre" bei einem Trägerverein absolvieren. Bei einem Drittel dieser 200 Jugendlichen ist nicht davon auszugehen, dass sie über die Vor-bzw. Teilqualifizierung hinauskommen."

Geht es wieder aufwärts mit der Lehre?

"Wir haben nur die Jugend, die wir haben, und wir müssen Maßnahmen finden, um ihre Talente zu entwickeln", appelliert Hubert Stoff, Österreichs Bundesbildungsreferent in der Wirtschaftskammer (siehe Umfrage S. 18). Experten wie Clark glauben, dass der Tiefpunkt beim Image der Lehre überwunden sein könnte. Großbetriebe wie Porsche Austria, aberauch große Handelsketten bewerben die Lehre mit hohem Marketing-Aufwand als attraktive, zukunftsträchtige Ausbildungsmöglichkeit. Man hofft, vor allem bei den Eltern mit der Aussicht auf exzellente Karrierechancen zu punkten -von der Unternehmerlaufbahn bis zu akademischen Würden ist heute alles drin. "Eine Lehre ist keine Sackgasse, sondern eine Einbahn in die Zukunft", formuliert es Nagl.

"Die Lehre mit Matura kann das Tor zu einer schönen Karriere sein", meint deshalb auch Fuchs. Zu bevorzugen sei dabei die Variante, bei der die Matura gleich in den Lehrvertrag mit aufgenommen wird. Bei denen, welche die Reifeprüfung nur als Möglichkeit mit Billigung des Arbeitgebers ins Auge fassen, ist die Drop-out-Rate hoch.

Talentierte Jugendliche mit Technik-Interesse brauchen sich nicht zu fürchten, sich mit der Entscheidung für eine Lehre für ihr gesamtes Berufsleben festlegen zu müssen. Fuchs: "An den Fachhochschulen sind Lehrabsolventen mit Matura sehr gefragt."